Flagge der EU und von Ungarn
analyse

Vor Gipfel zur Ukraine Poker zwischen EU und Ungarn

Stand: 13.12.2023 22:18 Uhr

Pünktlich zum EU-Gipfel, auf dem Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beschlossen werden sollen, gibt die EU eingefrorene Gelder an das blockierende Ungarn frei. Ist das reiner Zufall oder kluges Kalkül?

Die EU-Kommission ist im Allgemeinen keine wortkarge Institution. Im Verlaufe des Mittwochs hatte sie beim Kurznachrichtendienst X zum Beispiel über einen "signifikanten Meilenstein" in den Handelsbeziehungen zu Chile informiert. Auch neue Umfragewerte, wonach weiterhin eine Mehrheit in Europa die Unterstützung der Ukraine befürworte, sind einen Eintrag wert.

Bei einer anderen mit Spannung erwarteten Entscheidung könnte der Eindruck entstehen, dass sie eher mit verhaltener Lautstärke bekannt gegeben wurde. Die EU-Kommission gibt für Ungarn gut zehn Milliarden Euro frei, die bisher geblockt waren. Die dazu verschickte Pressemitteilung löst schnell harsche Reaktionen aus. Der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund spricht vom "größten Schmiergeld in der EU-Geschichte an den Autokraten und Putin-Freund Viktor Orban".

Ungarn legt sich quer

Es geht in diesem Fall um mehr als nur eine für EU-Verhältnisse überschaubar große Geldsumme. Diese Entscheidung muss man im größeren Zusammenhang betrachten. Die Ausgangslage: Eigentlich ist geplant, dass bei diesem EU-Gipfel für die Ukraine sehr wichtige Beschlüsse gefasst werden. Im Mittelpunkt stehen eine finanzielle Unterstützung von weiteren 50 Milliarden Euro für vier Jahre sowie die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte noch am Mittwochmorgen im Straßburger EU-Parlament für Unterstützung geworben: "Während sich der Krieg hinzieht, müssen wir beweisen, was es bedeutet, die Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen."

26 Mitgliedstaaten sind bereit, die Beschlüsse zu treffen. Doch Ungarn legt sich quer, will das Thema von der Tagesordnung haben und droht mit einem Veto. Zumindest beim Thema Beitrittsverhandlungen ist Einstimmigkeit Pflicht. Ein Machthebel für Orban.

Soll Orban zum Einlenken gebracht werden?

Der Blockadepoker auf dem Gipfel wäre für sich schon vertrackt genug. Doch jetzt kommen die bisher blockierten Milliarden für Ungarn ins Spiel. Seit Tagen deutet sich an, dass eine Freigabe durch die Kommission näher rückt. Und selbst Beteiligte können nicht von der Hand weisen, dass die zeitliche Nähe zum Gipfel einen unguten Eindruck hinterlassen könnte. Soll Orban mit der Freigabe zum Einlenken gebracht werden?

Die Erklärungen der EU-Kommission erzählen von einer anderen Sicht auf die Vorgänge: Justizkommissar Didier Reynders teilt mit, Ungarn habe mit den jüngsten Justizreformen alle vereinbarten Anforderungen erfüllt. Es gebe nun ausreichend Garantien dafür, dass man sagen könne, die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn werde gestärkt. Man werde die Lage weiterhin aufmerksam beobachten und bei Rückschlägen frühzeitig reagieren. Am Tag vor der Entscheidung hatte Vizepräsidentin Vera Jourova davon gesprochen, es sei "reiner Zufall", dass der Vorgang fast mit dem Gipfel zusammenfalle.

"Erpressung siegt in der EU"

Es ist eine Sichtweise, zu der massive Zweifel geäußert werden. Spätestens, wenn von der Leyen beim Gipfel zu ihrer Pressekonferenz kommt, dürfte sie mit entsprechenden Fragen konfrontiert werden. Erst am Mittwoch waren die notwendigen Dokumente aus Ungarn in der EU-Kommission eingetroffen. War es wirklich unbedingt notwendig, so schnell danach eine Entscheidung zu treffen? Hätte das nicht noch ein paar Tage bis nach dem Gipfel warten können?

Dass es vom rechtlichen Prozess her keine andere Möglichkeit gegeben habe, zweifelt die CSU-Abgeordnete Monika Hohlmeier an: "Die Kommission hätte die Gelder zu keinem schlechteren Zeitpunkt freigeben können." Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley von der SPD schreibt, von der Leyen setze ein "gefährliches Signal": "Erpressung siegt in der EU."

Die Freigabe der Milliarden für Ungarn könnte noch länger nachhallen. Der Grüne Daniel Freund sagt, die Kommissionspräsidentin begehe den "größten Fehler ihrer Amtszeit". Im kommenden Jahr könnte von der Leyen auf Unterstützung im EU-Parlament angewiesen sein. Sollte sie eine zweite Amtszeit anstreben, benötigt sie dort eine Mehrheit.

Was macht Orban?

Die kurzfristige Frage bleibt: Wie wird sich Orban auf dem Gipfel verhalten? Kaum hatte die Kommission ihre Pressemitteilung verschickt, postet der ungarische Regierungschef ein Video bei X - verbunden mit der Botschaft: "Ein rascher Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union hätte verheerende Folgen für die europäischen Landwirte, den EU-Haushalt und die europäische Sicherheit."

Um den eigentlichen Beitritt - schon gar keinen schnellen - geht es in Brüssel noch gar nicht, sondern um den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Wird sich Orban am Ende zu einer Zustimmung bringen lassen? Wie weit ist er bereit zu gehen? Die Antworten wird er am Brüsseler Gipfeltisch geben.

Matthias Reiche, ARD Brüssel, tagesschau, 13.12.2023 18:00 Uhr