Finanzkrise Die gelähmten Vereinten Nationen
Die UN leiden unter einer massiven Haushaltskrise. Dass in Genf Rolltreppen stillstehen, zeigt symbolhaft die Finanznot der Staatengemeinschaft, die für die vielen UN-Organisationen dramatische Folgen hat. Droht das Ende des Systems UN?
Wenn Philippe Mottaz das Gelände der Vereinten Nationen in Genf betritt, kann er die Geldsorgen, unter denen die UN derzeit leiden, nicht übersehen. Dass die UN unter anderem am Personal sparen müssen, erlebt Mottaz - Journalist beim auf UN-Themen spezialisierten Geneva Observer - schon in der langen Warteschlange bei der Sicherheitskontrolle am Eingang.
Stillstand auch drinnen: Die Rolltreppen, die sonst Diplomaten und Diplomatinnen bequem nach oben zum Saal des Menschenrechtsrats bringen, sind abgestellt. Für die Delegierten heißt es deshalb: Treppensteigen.
"Wir bitten um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten", steht auf einem Schild mit dem himmelblauen UN-Logo. Grund sei die "Liquiditätskrise" der Vereinten Nationen, auf Deutsch: Es ist kein Geld mehr da.
Überall auf dem UN-Gelände stehen solche Schilder, sie informieren über eingeschränkte Öffnungszeiten, geschlossene Konferenzräume und Bibliotheken oder heruntergedrehte Heizungen im Winter.
Nach oben geht vorerst nichts mehr in diesem UN-Gebäude - jedenfalls nicht mit der Rolltreppe.
Eine Rolltreppe als Symbol
Alessandra Vellucci, die Sprecherin der UN in Genf, muss seit Monaten um Verständnis werben: "Wir versuchen vor allem bei Energie und Personal zu sparen, weil wir die Betriebskosten um 32,6 Prozent reduzieren müssen."
Ein siebenstöckiges Bürogebäude wurde gerade geräumt. Die Sitzungen des Menschenrechtsrats sind nicht mehr wie gewohnt komplett online zugänglich. Ein Riesenproblem ist das vor allem für ärmere Länder und Nichtregierungsorganisationen, die nicht immer Vertreter nach Genf schicken können.
Klar ist: Es geht hier um mehr als eine kleine Haushaltskrise. "Die stillgelegte Rolltreppe ist die Rolltreppe zum multilateralen System, zum Daseinsgrund der UN", erklärt Mottaz. "Das ganze System ist in der Krise, die Länder sind immer zögerlicher, ihre Beiträge zu zahlen."
Es klafft eine Milliardenlücke
Die miserable Zahlungsmoral betrifft über 70 der 193 Mitgliedsstaaten. Mehr als eine Milliarde Euro an Beiträgen wurden für 2024 bislang nicht gezahlt. Auch die USA, eigentlich größter Geldgeber der UN, sind wieder mal im Rückstand.
In Genf, wo unter anderem das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die UN-Organisation für Migration ihren Sitz haben, "sind die finanziellen Engpässe der Vereinten Nation real", bestätigt die deutsche UN-Botschafterin Dr. Katharina Stasch.
Sie spricht von "großen Herausforderungen" im humanitären Bereich: "Aufgrund von Naturkatastrophen und Kriegen steigt der Bedarf eklatant, während gleichzeitig Länder ihre finanziellen Beiträge herunterfahren oder gar nicht mehr zahlen."
Auch der scheidende UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths schlägt - nicht zum ersten Mal - Alarm: Nur zu einem Bruchteil, etwa 18 Prozent, seien bislang die Hilfsprogramme finanziert für Millionen notleidende Menschen in Syrien, dem Sudan, in Jemen, Gaza, der Ukraine und vielen weiteren Krisen- und Kriegsgebieten weltweit. "Die Weltgemeinschaft scheint wie gelähmt", sagt Griffiths, "weil es einzelnen Staaten an Werten und Engagement fehlt".
Ein eindringlicher Appell
Besonders hart trifft es auch das UN-Menschrechtsbüro (OHCHR). Untersuchungen und Berichte zu Menschenrechtsverletzungen liegen auf Eis oder können nur noch eingeschränkt durchgeführt werden. Es sei kaum noch möglich, Opfern eine angemessene Stimme zu geben und Beweise zu Menschenrechtsverstößen umfassend zu sammeln, bevor sie verloren gehen, berichtet das OHCHR.
Ende Juni richtete UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk im Menschenrechtsrat einen eindringlichen Appell an die Mitgliedsländer: "Die Situation ist sehr schlimm: Wir können unseren Auftrag nicht mehr vollständig erfüllen, die Menschenrechte für alle und überall zu schützen."
Von den Mitgliedern geschwächt
Auch als Vermittler für Frieden scheinen die Vereinten Nationen ohnmächtiger denn je. "Kriege werden als politisches Mittel wieder salonfähig“, sagt Achim Wennmann, Experte für Friedensförderung am Genfer Graduate Institute. "Dem stehen die UN machtlos gegenüber, weil sie nur so stark sein können, wie ihre Mitglieder es erlauben."
Während Europa weiterhin auf die Vereinten Nationen als unverzichtbares Instrument der Friedenssicherung setzt, warnt Journalist Phillippe Mottaz vor einer weiteren Verschlechterung der Situation, sollte Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden. "Vielleicht", sagt er, "erleben wir gerade den Anfang vom Ende des seit 75 Jahren etablierten Systems der Vereinten Nationen, in dem die größten Länder bislang konstruktiv nach Lösungen für die bedrückenden Herausforderungen der Welt gesucht haben".