Ein Mann beobachtet einen Rettungseinsatz in einem zerstörten Haus im Gazastreifen
interview

UN-Hochkommissar für Menschenrechte "Diese Gewalt muss zum Ende kommen"

Stand: 09.12.2023 08:59 Uhr

Vor 75 Jahren wurde die allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet - ohne Gegenstimme. Wäre das heute noch denkbar? Zum Jubiläum betont UN-Hochkommissar Türk ihre Bedeutung und Wirkung - gerade mit Blick auf den Krieg in Nahost.

tagesschau.de: Als die allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 verabschiedet wurde, geschah das als Reaktion auf die beiden Weltkriege und den Holocaust. Jetzt, 75 Jahre später, gab es am 7. Oktober das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust und den grauenvollen Krieg in Gaza. Haben die Menschenrechte versagt?

Volker Türk: Man kann sich die Frage stellen, ob es an diesem Jahrestag viel zu feiern gibt. Wir haben mehr Konflikte als je zuvor, wir haben die Klimakrise und wir sehen, was die Digitalisierung betrifft, die Gefahren, die Künstliche Intelligenz mit sich bringt. Wir sehen, was sich in den sozialen Medien abspielt, was Antisemitismus betrifft. Aber auch Islamophobie und einen Hass, der gegen andere Menschen entwickelt wird - auch gegen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten.

Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich auch in solch einer Zeit darauf besinnt, was die Menschenrechte darstellen, welche Kraft für Veränderungen sie besitzen und was sie auch in den vergangenen 75 Jahren bewirkt haben.

Volker Türk
Zur Person
Volker Türk ist seit 2022 UN-Hochkommissar für Menschenrechte.

"Humanitär extrem prekär"

tagesschau.de: Bei dieser prekären Situation im Krieg zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel: Welche Auswege sehen Sie und was können sie konkret tun außer zu appellieren?

Türk: Wir sind in Kontakt mit der Zivilgesellschaft - sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis, mit israelischen Menschenrechtsverteidigern und Regierungsstellen, mit der palästinensischen Autorität und allen anderen Staaten. Wir weisen darauf hin, dass es ein absolutes Gebot gibt, das internationale, humanitäre Völkerrecht einzuhalten und auch die Menschenrechte einzuhalten.

Es war schrecklich, was am 7. und 8. Oktober passiert ist. Alles, was den israelischen Zivilisten angetan wurde, ist zu verdammen. Was jetzt passiert in Gaza mit dieser militärischen Aktion ist humanitär extrem prekär. Es sind mittlerweile mehr als 6000 Kinder getötet worden.

Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, zum 75-jährigen Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

tagesschau24, 07.12.2023 09:00 Uhr

"So etwas haben wir noch nie erlebt"

tagesschau.de: Im Gazastreifen wurden in den vergangenen Wochen so viele UN-Mitarbeiter getötet wie in keinem anderen Konflikt zuvor. Was macht das mit Ihnen und Ihrem Team?

Türk: Wir haben 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen verloren, eine absolut schreckliche Zahl. Wir haben so etwas noch nie erlebt in der Geschichte der Vereinten Nationen, dass so viele Menschen so schnell getötet wurden.

Nach wie vor sind sechs Mitarbeiter vor Ort, die haben mir schreckliche Dinge erzählt. Die können ihre Arbeit in Gaza nicht mehr durchführen, weil sie mittlerweile schon fünf Mal vertrieben wurden. Ein Mitarbeiter hat mir erzählt, seine Frau sei hochschwanger und er wisse gar nicht, wo sie gebären wird. Viele von ihnen haben Familienmitglieder verloren.

tagesschau.de: Sind sie überfordert?

Türk: Meine Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind extrem überfordert. Wir machen alles, was wir tun können, um ihnen zu helfen. Es ist sehr schwierig, aus Gaza herauszukommen. Deshalb muss diese Gewalt zum Ende kommen.

"Da werden Sachen behauptet, die einfach nicht stimmen"

tagesschau.de: Der Konflikt polarisiert extrem. Es gibt auch schwere Vorwürfe an die UN seitens Israels, dass die Vereinten Nationen Palästinenser favorisieren würden. Was sagen Sie dazu?

Türk: Es ist so, dass unsere Arbeit auf Ethik und Professionalität gründet. Ich habe gesehen, dass es eine ganze Kampagne gibt gegenüber einer Mitarbeiterin - der Leiterin vom UN-Team in Israel. Ich kenne sie sehr gut und habe den höchsten professionellen Respekt für sie. Was über sie geschrieben wird und die Desinformation, die damit verbunden ist, finde ich völlig inakzeptabel, denn da werden Sachen behauptet, die einfach nicht stimmen.

tagesschau.de: Fakt ist aber auch, dass der UN-Menschenrechtsrat einige Länder wie Israel häufig kritisiert wegen Menschenrechtsverletzungen, andere dagegen kaum oder gar nicht - China zum Beispiel oder Ägypten und Saudi-Arabien.

Türk: Es gibt den Menschenrechtsrat, der besteht aus Mitgliedsstaaten. Da spielt Politik mit. Das gebe ich zu. Das hat nichts mit dem Amt, das ich innehabe, zu tun. Wir halten die Kriterien der Objektivität und der Universalität ganz genau ein.

Sie werden von mir ganz klare Worte hören zu all denen, die überall auf der Welt Menschenrechte verletzen. Wir machen keinen Unterschied, ob das ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrats wie die USA, Großbritannien oder China ist oder ein Staat wie Afghanistan oder die Zentralafrikanische Republik.

tagesschau.de: Es gibt 55 Konflikte aktuell. Wie schaffen Sie es, auf alle zu reagieren?

Türk: Es ist wichtig, dass man sich immer wieder darauf besinnt, dass wir in der Arbeit Erfolge haben, die Hoffnung machen. Wir schaffen es, dass wir Gesetzesvorhaben beeinflussen, wenn die nicht im Einklang mit den Menschenrechten stehen. Wir schaffen es, dass wir eine Brückenfunktion zwischen staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft haben. Das ermutigt mich sehr. Wenn ich junge Menschen frage: Was bewegt Euch?, ist Klimawandel immer vorne - aber auch die Menschenrechte.

"Sehen eine Tendenz, die rückwärtsgewandt ist"

tagesschau.de: Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Da sieht es besonders düster aus. Wenn man auf den Krieg in Nahost schaut, trifft die entfesselte Gewalt besonders Frauen. Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung wurden von der Hamas offenbar gezielt als Waffe eingesetzt. In Afghanistan haben Frauen so gut wie keine Rechte mehr. Zeigt sich da ein globaler Trend?

Türk: Gerade was Frauenrechte betrifft, müssen wir extrem aufpassen. Wir sehen eine Tendenz, die rückwärtsgewandt ist. Was mich besonders beunruhigt, ist Gewalt gegen Frauen und dass die Zahl der Femizide auch in Europa hinauf geht.

tagesschau.de: Es wird den Vereinten Nationen auch vorgeworfen, zu spät reagiert zu haben auf die Berichte von sexueller Gewalt durch die Hamas in Israel, von den Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Leichenschändungen.

Türk: Was mein Amt betrifft, kann ich Ihnen sagen, dass wir diese Berichte erst vor Kurzem bekommen haben. Wir nehmen sie extrem ernst. Ich habe bereits in der Woche vom 8. Oktober die Israelis gebeten, dass ich ein Team nach Israel schicken kann, das genauer dokumentieren und ein Monitoring machen kann. Leider habe ich dazu keine Antwort bekommen.

Kein Einfluss auf russische Gesetze

tagesschau.de: Man kann viele andere Gruppen von Menschen aufzählen, die besonders bedroht sind. Russland hat LGBTQ+-Menschen durch eine Reihe von Gesetzen und Erlasse kriminalisiert. Sie haben das sofort verurteilt. Aber was können Sie als UN-Menschenrechtskommissar tatsächlich tun?

Türk: Wenn wir Gesetzesvorhaben zur Vorlage bekommen, auch zu LGBTQ+-Angelegenheiten, haben wir immer die Möglichkeit, das zu beeinflussen. Und wir haben einige Erfolge gehabt, wenn Gesetzesvorhaben nicht akzeptierbar waren. Was Russland betrifft leider nicht.

In solch einer Situation ist es besonders wichtig, dass wir mit der Zivilgesellschaft engen Kontakt halten. Ich treffe sie auch immer wieder und schaue, was wir genau an Unterstützung anbieten können. Zum Beispiel wenn es darum geht, vor Gericht zu erscheinen oder Menschen vor Ort zu besuchen oder dass sie rechtliche Hilfe bekommen.

tagesschau.de: Einige Länder kritisieren immer wieder, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu sehr von westlichen Werten geprägt sei. Was antworten Sie auf diese Kritik?

Türk: Das ist ein alter Vorwurf, der immer wieder aufkommt. Wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Erklärung der Menschenrechte ansieht und die Diskussion, die es vor 30 Jahren gegeben hat bei der Weltkonferenz in Wien, wo es die Wiener Erklärung gegeben hat: Da ist zwei Jahre lang von allen Mitgliedsstaaten mitverhandelt worden und es ist ganz klar der Konsens entstanden, dass Menschenrechte universell und genährt sind von allen Kulturen und allen religiösen Traditionen und dass sie eben kein westliches Produkt sind.

tagesschau.de: China versucht im Menschenrechtsrat seine eigene Vorstellung von Menschenrechten durchzusetzen, wonach wirtschaftlich-kollektive Rechte wichtiger seien als individuelle oder politische Freiheitsrechte. Welche Strategien wollen Sie dieser Interpretation entgegensetzen?

Türk: Kenntnis der Geschichte und des Rechts sind sehr wichtig. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ganz klar, und dieser Grundkonsens steht nach wie vor.

Die Herausforderung durch den Klimawandel

tagesschau.de: Wenn Sie Prioritäten setzen müssten, was ist die größte Herausforderung für die Menschenrechte jetzt?

Türk: Abgesehen von dem Recht auf Frieden ist ganz klar der Klimawandel die größte Herausforderung. Das bedroht uns und unsere Menschenrechte - vor allem bei denen in den ärmsten Ländern, die kaum einen Beitrag zum Klimawandel gemacht haben. Die leiden am meisten darunter. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.

tagesschau.de: Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 in Paris verabschiedet bei der UN-Vollversammlung - ohne Gegenstimmen. Wäre das heute noch vorstellbar?

Türk: Wenn sie es heute neu verhandeln wollten, sähe ich ein Problem. Wir müssen die Menschenrechte erhalten, behüten und umsetzen. Ich würde keine Diskussion anfangen, wie man die Erklärung umschreiben könnte. Das wäre nicht sehr sinnvoll.

tagesschau.de: Da würden sich unter Umständen keine Mehrheiten mehr finden?

Türk: Da könnte es zu Problemen kommen, ja.  

Kathrin Hondl, ARD Genf, tagesschau, 09.12.2023 09:09 Uhr

Das Gespräch führte Kathrin Hondl, ARD Genf. Für die schriftliche Version wurde das Interview leicht angepasst.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 09. Dezember 2023 um 05:05 Uhr.