Russischer Vormarsch in Charkiw Selenskyj sagt alle Auslandsreisen ab
In der ukrainischen Region Charkiw rücken russische Truppen weiter vor. Angesichts der schwierigen Lage seiner Armee hat Präsident Selenskyj vorerst alle Reisen ins Ausland abgesagt. Zugleich wirbt er verstärkt um militärische Hilfen.
Eine mutmaßliche Offensive des russischen Militärs in der Region Charkiw drängt die dort stationierten ukrainischen Truppen zurück. Wolodymyr Selenskyj sagte wegen des Vorrückens der russischen Armee alle in nächster Zeit geplanten Auslandsreisen ab.
"Wolodymyr Selenskyj hat die Anweisung gegeben, alle internationalen Veranstaltungen mit seiner Beteiligung für die kommenden Tage zu verschieben", teilte Serhij Nykyforow, Sprecher des ukrainischen Präsidenten, auf Facebook mit. Konkret ging es dabei um eine Reise nach Spanien. Das spanische Königshaus hatte zuvor bereits eine im Internet veröffentlichte Ankündigung eines für Freitag geplanten Treffens Selenskyjs mit König Felipe VI. in Madrid gelöscht. Auch ein Besuch Selenskyjs in Portugal wurde vorerst gestrichen. Für beide Reisen sollen nun neue Termine gefunden werden.
Ukrainische Armee muss sich teils zurückziehen
Seit der vergangenen Woche rücken russische Truppen verstärkt in der bereits seit Langem umkämpften Region Charkiw vor. Die ukrainische Armee musste eigenen Angaben zufolge einige Stellungen aufgeben. "Infolge von Kampf- und Offensivhandlungen des Gegners haben unsere Einheiten an bestimmten Abschnitten in den Gebieten Lukjanzi und Wowtschansk ein Manöver durchgeführt und sich in vorteilhaftere Positionen begeben, um das Leben unserer Soldaten zu retten und um Verluste zu vermeiden", teilte der ukrainische Generalstab auf Facebook mit.
Um die Orte Lukjanzi und Wowtschansk wurde erbittert gekämpft. Beide liegen rund 30 Kilometer voneinander entfernt und befinden sich nahe der russischen Grenze. Der ukrainische Generalstab erklärte, die Lage in der Region sei "nach wie vor schwierig". Jedoch werde es die Armee "den russischen Besatzern nicht erlauben, Fuß zu fassen".
Erst am Mittag hatte das russische Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass zwei weitere Orte in der ukrainischen Region hätten eingenommen werden können. Zudem sei auch eine Ortschaft in der Region Saporischschja von russischen Truppen eingenommen worden. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben jedoch nicht.
Verstärkung für die Truppen an der Front
Die Ukraine will nun Verstärkung in die umkämpfte Region entsenden. Auch das teilte Selenskyjs Sprecher Nykyforow mit, nachdem der Präsident mit Armeechef Oleksandr Syrskyj über die Lage in Charkiw beraten habe. "Zusätzliche Kräfte werden eingesetzt, Reserven sind vorhanden", sagte er.
Schon in einer in der Nacht veröffentlichten Videobotschaft hatte Selenskyj selbst zusätzliche Truppen für die Regionen Charkiw und Donezk in Aussicht gestellt. "Es ist noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen, aber die Lage ist unter Kontrolle", gab er sich trotz der Geländegewinne russischer Truppen zuversichtlich.
Erst am Dienstag hatte die Staatsanwaltschaft in Charkiw mehrere russische Luftangriffe auf die Stadt Charkiw gemeldet. Mehr als 20 Menschen sollen dabei verletzt worden sein, darunter auch Kinder.
Selenskyj dringt auf "Patriot"-Systeme
Selenskyj hatte die mutmaßliche Offensive Russlands erneut zum Anlass genommen, verstärkt auf militärische Unterstützung für sein Land zu dringen - auch gegenüber US-Außenminister Antony Blinken, der zu seinem mittlerweile vierten Besuch seit Kriegsbeginn nach Kiew gereist war.
Vor allem die ukrainische Luftverteidigung müsse aufgerüstet werden, betonte Selenskyj und bat wiederholt um die Lieferung von "Patriot"-Luftabwehrsystemen. Wenn bereits zwei solcher Systeme in die Region Charkiw geliefert worden wären, so betonte Selenskyj, "dann hätte das einen Unterschied für die Gesamtsituation im Krieg gemacht". Auch aus Deutschland hat die Ukraine "Patriot"-Abwehrsysteme erhalten. Im April hatte die Bundesregierung angekündigt, ein drittes System dieser Art liefern zu wollen.
USA bekräftigen Unterstützung für Ukraine
Nach einem Treffen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba kündigte Blinken weitere finanzielle Unterstützung für die Ukraine an. Zwei Milliarden Dollar wollen die USA demnach an weiteren Hilfen investieren, die vor allem der Stärkung der ukrainischen Industrie dienen sollen. Rund 1,6 Milliarden Dollar davon stammen aus den im April nach langem Ringen vom US-Kongress beschlossenen Ukraine-Hilfen im Umfang von rund 60 Milliarden Dollar. Der Rest soll aus anderen Quellen kommen.
Blinken stellte der Ukraine aber auch eine fortwährende Unterstützung mit Rüstungsgütern in Aussicht. Der Fokus der USA liege auf einer möglichen Lieferung weiterer "Patriot"-Systeme und anderer Systeme für die ukrainische Luftabwehr. In dem im April vom US-Repräsentantenhaus und vom US-Senat verabschiedeten Hilfspaket für die Ukraine waren bereits weitere umfangreiche Waffenlieferungen vorgesehen, etwa Munition, gepanzerte Fahrzeuge und Raketen. Einige hätten die Ukraine schon erreicht, teilte Blinken mit, andere sollten folgen.