Krieg gegen die Ukraine Alle Frauen und Kinder aus Stahlwerk evakuiert
Wochenlang waren sie im von Russland belagerten Stahlwerk in Mariupol eingesperrt: Nun haben offenbar alle Frauen, Kinder und älteren Menschen das Werk verlassen können. In anderen Landesteilen setzt die russische Armee ihre Angriffe fort.
Während aus mehreren ukrainischen Städten russische Angriffe gemeldet werden, sind in Mariupol offenbar Bemühungen erfolgreich gewesen, weitere Zivilisten aus dem seit Wochen von der russischen Armee belagerten Stahlwerk Asowstal zu retten: Offiziellen ukrainischen Angaben zufolge konnten die letzten Frauen, Kinder und älteren Menschen aus dem Werk gebracht werden.
"Dieser Teil der humanitären Operation in Mariupol ist abgeschlossen", schrieb die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk im Nachrichtendienst Telegram. Ob unter den verbliebenen Männern noch Zivilisten sind, ließ sie zunächst offen. Auf dem Werksgelände haben sich weiter die letzten verbliebenen ukrainischen Kämpfer verschanzt, die sich den russischen Truppen entgegenstellen.
Aus dem russischen Verteidigungsministerium hieß es am Abend, seit vergangenem Donnerstag seien insgesamt 51 Menschen aus Asowstal gerettet worden - damit sei die Evakuierung aller Zivilisten abgeschlossen. Am Samstag sei nur noch ein einziger Mensch übrig gewesen, der nun auch in Sicherheit sei. Zuvor hatten die prorussischen Separatisten, die an der Seite Moskaus kämpfen, über die Evakuierung von 50 Zivilisten informiert. In anderen Teilen Mariupols, wo vor dem Krieg mehr als 400.000 Menschen lebten, sollen allerdings noch weitere Menschen ausharren.
Die jüngste Evakuierungsmission kam mit Hilfe der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zustande. Russlands Militär hatte dafür seit Donnerstag jeden Tag mehrstündige Feuerpausen in der völlig zerstörten Stadt am Asowschen Meer zugesichert. Die letzte sollte am Samstagabend enden.
Beobachter gehen davon aus, dass der Kreml Asowstal so schnell wie möglich einnehmen will, um am russischen "Tag des Sieges" kommenden Montag - dem 77. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland - die komplette Eroberung Mariupols verkünden zu können. Für Moskau wäre das ein wichtiger militärischer Erfolg. Bislang steht mit Cherson lediglich eine bedeutende ukrainische Stadt völlig unter russischer Kontrolle.
Offenbar schwere Raketenangriffe auf Odessa
In anderen Landesteilen setzte die russische Armee nach ukrainischen Angaben ihre Offensive fort. Aus mehreren Städten wurden Angriffe gemeldet. Auf die südukrainische Hafenstadt Odessa sind ukrainischen Angaben zufolge mindestens vier russische Raketen abgefeuert worden. Örtliche Medien zeigten dicke schwarze Rauchwolken über dem Stadtgebiet. Berichten zufolge soll ein Militärflugplatz getroffen worden sein. Die Behörden machten zunächst keine Angaben zu möglichen Opfern. Von russischer Seite gab es bislang keine Bestätigung.
Explosionen - teils von der Luftabwehr - wurden auch aus dem benachbarten Gebiet Mykolajiw, dem zentralukrainischen Poltawa und dem westukrainischen Chmelnyzkyj gemeldet. Bei einem Angriff auf das grenznahe nordostukrainische Gebiet Sumy sei bei einem Luftangriff mindestens ein Mensch verletzt worden.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Laut ukrainischem Verteidigungsministerium zerstörten russische Truppen in der Region Charkiw drei Straßenbrücken, um ukrainische Gegenangriffe aufzuhalten. Die ukrainisch kontrollierte Stadt Sewerodonezk in der östlichen Region Luhansk war nach Angaben ihres Bürgermeisters vom Freitag "praktisch umstellt".
Ukrainischen Rettungsdiensten zufolge wurde in Kostjantyniwka in der Region Donezk eine Technische Hochschule von einer Rakete getroffen und in Brand gesetzt. Mindestens zwei Menschen seien gestorben. Entlang der Frontlinie gab es nach Behördenangaben "massive Bombenangriffe".
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Sorge im Vorfeld des "Tag des Sieges"
Zuvor hatten ukrainische Behörden vor verstärkten russischen Luftangriffen im Zusammenhang mit dem bevorstehenden russischen "Tag des Sieges" gewarnt. Bei der traditionellen großen Militärparade am 9. Mai in Moskau wird Präsident Wladimir Putin sprechen. Erwartet wird, dass er dabei die weitere Richtung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine vorgibt. Westliche Beobachter halten es für möglich, dass er der Ukraine offiziell den Krieg erklären oder eine Generalmobilmachung verkünden könnte, auch wenn der Kreml entsprechende Pläne bislang als "Unsinn" zurückgewiesen hat.
Der ukrainische Präsident rief deswegen zu Vorsicht und Disziplin auf. "Ich bitte alle unsere Bürger - und gerade in diesen Tagen -, den Luftalarm nicht zu ignorieren", sagte der Staatschef in einer Videoansprache. "Bitte, das ist Ihr Leben, das Leben Ihrer Kinder." Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten strikt den Anordnungen der Behörden folgen und sich an örtliche Ausgangssperren halten, mahnte Selenskyj.
Das ukrainische Innenministerium kündigte an, mit 5000 Mann zu patrouillieren, um mögliche Provokationen zu unterbinden. In frontnahen Städten wie Odessa soll zwei Tage eine Ausgangssperre gelten. In der Hauptstadt Kiew werde es diese zwar nicht geben, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. Aber auch er riet den Menschen, zuhause zu bleiben. "In den kommenden Tagen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit von Raketenbeschuss in allen Regionen der Ukraine", sagte er.