Krieg gegen die Ukraine Pässe für Cherson, Feuerpause in Mariupol
Die Besatzung plant russische Pässe für die Menschen im südukrainischen Gebiet Cherson. In Mariupol soll letztmals eine Feuerpause zur Rettung von Zivilisten gelten. Zugleich wächst im Land die Angst vor russischen Luftangriffen.
Die russische Besatzung im Süden der Ukraine unternimmt offenbar Schritte zu einer Abspaltung des Gebietes Cherson. Einwohnerinnen und Einwohner von Cherson sollten das Recht auf russische Pässe bekommen, sagte ein Moskau-treuer Regionalpolitiker. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti bezeichnete Kirill Stremoussow als stellvertretenden Leiter der militärisch-zivilen Gebietsverwaltung von Cherson. "Wir werden uns maximal in den Aufbau der Russischen Föderation integrieren", kündigte dieser an.
Schon in den kommenden Monaten werde Cherson vollständig auf den Rubel als Währung umstellen. Ukrainische Banken sollten ihre Arbeit einstellen. "Wir werden die Arbeit von Banken organisieren, die direkt mit Russland verbunden sind", sagte Stremoussow.
"Russland ist für immer hier"
Ein ranghoher Vertreter der Kremlpartei Geeintes Russland bekräftigte zudem Moskaus dauerhaften Anspruch auf das Gebiet Cherson. "Russland ist für immer hier", sagte der Duma-Abgeordnete Andrej Turtschak. Das müsse den mehr als 200.000 Einwohnerinnen und Einwohnern klar gemacht werden.
In Moskau mehren sich die Stimmen, das Gebiet Cherson der bereits im Jahr 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim anzugliedern. In der Stadt am Fluss Dnipro protestieren die Menschen immer wieder gegen die russische Besatzungsmacht.
Ukrainische Vorbereitungen auf Russlands Tag des Sieges
Zugleich wächst im ganzen Land die Angst vor verstärkten russischen Luftangriffen im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Moskauer "Tag des Sieges". Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief zu Vorsicht und Disziplin auf. "Ich bitte alle unsere Bürger - und gerade in diesen Tagen -, den Luftalarm nicht zu ignorieren", sagte der Staatschef in einer Videoansprache. "Bitte, das ist Ihr Leben, das Leben Ihrer Kinder."
Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten strikt den Anordnungen der Behörden folgen und sich an örtliche Ausgangssperren halten, mahnte Selenskyj. Wegen der Minengefahr sei das Betreten von Wäldern verboten, die vom russischen Militär besetzt waren.
Klitschko: "Hohe Wahrscheinlichkeit von Raketenbeschuss"
Das ukrainische Innenministerium kündigte an, mit 5000 Mann zu patrouillieren, um mögliche Provokationen zu unterbinden. In frontnahen Städten wie Odessa soll zwei Tage eine Ausgangssperre gelten. In der Hauptstadt Kiew werde es diese zwar nicht geben, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. Aber auch er riet den Menschen, zuhause zu bleiben. "In den kommenden Tagen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit von Raketenbeschuss in allen Regionen der Ukraine", sagte er.
Russland feiert am Montag, dem 9. Mai, den sowjetischen Sieg über Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Bei der traditionellen großen Militärparade in Moskau wird Präsident Wladimir Putin sprechen. Erwartet wird, dass er dabei die weitere Richtung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine vorgibt. Genau für diesen symbolträchtigen Tag lud Selenskyj Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew ein.
Selenskyj hofft auf Rettung der Soldaten aus Asowstal
Ziel der russischen Truppen ist angeblich, das mit Bunkern und Tunneln stark befestigte Asowstal-Werk in Mariupol bis zum 9. Mai zu erobern. Bei den bisherigen Evakuierungen durften nur Zivilpersonen, meist Frauen, Kinder oder ältere Menschen, das Werk in Richtung ukrainisch kontrolliertes Gebiet verlassen. Zuletzt waren es nach ukrainischen Angaben 50 Menschen.
Soldaten und Verwundete sitzen indes unter der Erde fest. Die Ukraine versuche, auch sie herauszuholen, sagte Selenskyj. "Wir arbeiten auch an diplomatischen Optionen, um unser Militär zu retten, das immer noch auf Asowstal verbleibt." Internationale Vermittler seien beteiligt. Er drohte, es werde keine Gespräche mehr mit Russland geben, wenn die Zivilisten und Soldaten in dem Stahlwerk getötet würden.
Russische Truppen wollen nach eigenen Angaben nun letztmals eine Feuerpause einlegen, um Zivilistinnen und Zivilisten den Abzug von dem Industriegelände zu ermöglichen.
Mehr Militärhilfe aus den USA
US-Präsident Joe Biden gab unterdessen weitere Militärhilfen für die Ukraine frei. Mit einem zusätzlichen Paket solle das Land Artilleriemunition, Radargeräte und andere Ausrüstung erhalten, kündigte Biden an. Ein 150 Millionen US-Dollar (rund 142 Millionen Euro) schweres Paket sei genehmigt worden, hieß es aus dem US-Außenministerium.
Einschließlich dieser Hilfen haben die USA der Ukraine seit Kriegsbeginn Waffen und Munition im Wert von mehr als 3,8 Milliarden US-Dollar (rund 3,6 Milliarden Euro) zugesagt oder bereits geliefert. Biden hat den US-Kongress außerdem um weitere 33 Milliarden US-Dollar (31,3 Milliarden Euro) für Militärhilfe und humanitäre Unterstützung gebeten.
NATO-Chef fordert mehr Waffenlieferungen
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief den Westen zu weiteren Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine auf. "Die Ukraine benötigt dringend weitere schwere Waffen, der Westen sollte seine Lieferungen intensivieren, noch mehr tun und sich auf ein langfristiges Engagement vorbereiten", sagte Stoltenberg der "Welt am Sonntag". Nur so könne Kiew die russische Invasion erfolgreich abwehren. Die Ukraine müsse sich auf einen "langen Krieg" mit Russland einstellen, der noch Monate oder gar Jahre dauern könnte, so Stoltenberg.
Stoltenberg erwartet für die kommenden Wochen eine weitere Verschärfung des Krieges. "Wir müssen uns auf russische Offensiven und noch mehr Brutalität, eine noch größere Not und noch mehr Zerstörung von kritischer Infrastruktur und Wohngebieten einstellen." Allerdings litten die russischen Soldaten "unter schlechter Führung, niedriger Moral und viele wissen nicht, wofür sie kämpfen".
Warnung vor Einsatz von Atomwaffen
Der NATO-Chef warnte Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg. "Unsere Botschaft ist eindeutig: Nach einem Einsatz von Nuklearwaffen würde es auf allen Seiten nur Verlierer geben", sagte Stoltenberg. "Einen Atomkrieg kann man nicht gewinnen, und er sollte nie geführt werden, das gilt auch für Russland." Die Allianz hat laut Stoltenberg aber keine Hinweise darauf, dass speziell die russischen Nuklearwaffen seit Beginn des Krieges in einer höheren Bereitschaftsstufe seien.
Russlands Außenministerium hatte zuletzt Spekulationen über einen möglichen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine zurückgewiesen. Ende Februar hatte die Regierung in Moskau allgemein seine Abschreckungswaffen in Alarmbereitschaft versetzt, was weltweit als Drohung auch mit dem atomaren Arsenal verstanden worden war.
Heusgen: Keine Zusammenarbeit mit Putin
Angesichts der Ereignisse der vergangenen zweieinhalb Monate schließt der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, eine Zusammenarbeit mit Kremlchef Wladimir Putin nach Kriegende aus. "Jegliche Zusammenarbeit mit Putin ist unmöglich. Russlands Präsident hat sich von der zivilisierten Welt verabschiedet", sagte Heusgen den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Er habe alle Vereinbarungen, unter denen sein Name stehe, gebrochen und gehöre für die von Russland begangenen Kriegsverbrechen vor ein internationales Gericht.
Auch für Heusgen zeichnet sich kein baldiges Ende des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ab. "Ich fürchte, der Krieg wird noch dauern", sagte der frühere deutsche UN-Botschafter und langjährige außenpolitische Berater von Ex-Kanzlerin Angela Merkel. "Die ukrainische Regierung muss sagen: Das ist für uns eine Lösung, bei der wir einem Waffenstillstand zustimmen", so Heusgen.
Die Ukrainer wollten aber keinen Diktatfrieden, sie wollten ihr Land zurück. "Deshalb fürchte ich, dass wir auf ein Szenario wie im Ersten Weltkrieg zusteuern. Mit einem Frontverlauf, an dem man sich heftig mit Artillerie beschießt und kämpft", sagte Heusgen.