Ein Haus in der Provinz Idlib, das vor einem Jahr beim Erdbeben zerstört wurde.
reportage

Ein Jahr nach dem Erdbeben "Ich höre die Schreie noch immer"

Stand: 06.02.2024 08:56 Uhr

Vor einem Jahr wurde der Nordwesten Syriens von einem schweren Erdbeben getroffen. Hilfe kam nur langsam über einen einzigen Grenzübergang - für viele zu spät. Noch immer leben hunderttausende Menschen in Zelten.

Hamza el Ahmed lernt laufen. Mühsam hangelt sich der schlaksige 15-Jährige an einem Geländer entlang. Genau ein Jahr ist es her, dass sich für den Jungen aus Dschindires im Nordwesten Syriens alles veränderte.

"Es war vier Uhr früh, ich habe geschlafen. Dann bebte die Erde, das Haus wackelte, wir haben uns alle in einem Raum versammelt. Meine große Schwester nahm meine kleine Schwester auf den Arm und rannte raus, ich hinterher." Als er an der Tür gewesen sei, sei plötzlich der Strom weg gewesen, und dann sei das Haus eingestürzt, sagt er. Er sei unter den Trümmern begraben gewesen. "Ich rief noch zu meinem Vater unterm Schutt, hol mich hier raus, aber er antwortete: 'Ich kann nicht.' Dann wurde ich ohnmächtig."

35 Stunden verschüttet unter Trümmern

35 Stunden lang lag der Jugendliche verschüttet in den Ruinen seines Elternhauses. Was Hamza zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Seine Eltern und mehrere Geschwister schafften es nicht, sie starben unter den Trümmern.

"Als ich wieder bei Bewusstsein war, wollte ich mich bewegen, doch ich konnte nicht, ich lag total unter dem Schutt. Ich hab geschrien, und dann ist der Zivilschutz gekommen, um mich zu befreien. Mein Bein und meine Hand waren unter dem Schutt verklemmt, deswegen haben sie lange gebuddelt, um mich rauszuholen", erzählt Hamza.

Hamzas rechtes Bein ist nicht mehr zu retten und muss im Krankenhaus amputiert werden. Auch sein Arm ist schwer verletzt - erst jetzt, nach einem Jahr, kann er langsam wieder die Finger bewegen. Vorsichtig findet der Vollwaise zurück ins Leben: Er bekommt Therapie und eine Beinprothese und übt laufen. Sein älterer Bruder hat überlebt - bei ihm kann er wohnen.

Und damit hat Hamza noch Glück: Hunderttausende Menschen sind im Nordwesten Syriens auch ein Jahr nach dem Beben immer noch obdachlos, leben in Zelten. Dazu kommen Millionen Menschen, die bereits seit Jahren durch den syrischen Bürgerkrieg hier in Flüchtlingslagern leben.

UN-Koordinator David Cardin sagt: "Die Situation in Nordwestsyrien bleibt auch ein Jahr nach dem Erdbeben furchtbar. Mehr als 3,4 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge - das ist rund eine halbe Million mehr als vor dem Erdbeben. Vier Millionen Menschen brauchen medizinische Betreuung."

"Die Zeltstädte bezeichnen wir als Schlammlager"

"Die Zeltstädte, in denen die Menschen leben, bezeichnen wir als Schlammlager", berichtet Ismail Abdallah von der Zivilschutzorganisation Weißhelme. "Weil sich die Lager durch den Regen in Sümpfe verwandeln." Der Winter sei hier im Nordwesten Syriens eine Katastrophe für diese Menschen - Krankheiten breiteten sich aus, so Abdallah weiter. "Aber die Zahl der Krankenhäuser reicht nicht aus, um alle Menschen zu versorgen. Es gab Cholera-Fälle, dazu kommen jetzt im Winter Atemwegserkrankungen, denn es gib keine Heizung. Die Menschen werfen alles Brennbare ins Feuer, um sich und ihre Kinder zu wärmen. Sie verbrennen Müll oder alte Schuhe. Viele Menschen haben Bronchitis."

Das Erdbeben hat in Syrien vor allem eine Region getroffen, die eh schon seit Jahren von Not und Gewalt gezeichnet ist: Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens wird von teilweise extremistischen Aufständischen und bewaffneten Milizen kontrolliert und ist abgeriegelt. Einziger Zugang für Hilfslieferungen ist ein überwachter Grenzübergang von der Türkei aus. Doch nach dem verheerenden Erdbeben dauerte es Tage, bis die Hilfe für den Nordwesten Syriens in Gang kam und später zwei weitere Grenzübergänge geöffnet wurden. Es verstrich wertvolle Zeit, in der die Menschen in der Region auf sich allein gestellt waren und mit bloßen Händen nach den Vermissten gruben.

"Uns fehlte die Ausrüstung"

Abdallah von den Weißhelmen sagt weiter: "Uns fehlte Ausrüstung, um die Verschütteten orten und bergen zu können. Wir hätten Wärmesensoren gebraucht und schweres Gerät zur Beseitigung der Trümmer, wie Bulldozer oder Kipplaster. Wir hatten noch nicht mal Diesel. Wir mussten uns auf unsere primitiven Handwerkszeuge verlassen und konnten nicht alle erreichen, deshalb sind viele Menschen gestorben. Hätten wir die Ausrüstung gehabt, hätten wir die Menschen retten können."

Auch in den von Syriens Diktator Baschar al-Assad kontrollierten Gebieten dauerte es lange, bis die ersten Hilfsflugzeuge landeten. Im Nordwesten war die Lage noch schlimmer. Als endlich nach Tagen die ersten Lkw über die türkische Grenze nach Nordwestsyrien rollten, kam die Hilfe für viele zu spät. Fassungslos berichteten Beobachter, dass sich in den ersten Hilfstransporten Standard-Hilfsgüter wie Waschmittel befunden haben sollen - statt der dringend benötigten Bergungsmittel. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths entschuldigte sich später öffentlich für die verzögerte Reaktion seiner Organisation.

Karte der Türkei und Syrien mit Damaskus

Abdallah kann das bis heute nicht verstehen: "Auch jetzt, auch nach einem Jahr, stellen wir uns immer noch eine Frage, auf die wir keine Antwort finden: Warum hat man uns ignoriert? Warum hat uns die internationale Gemeinschaft in den goldenen 72 Stunden, in denen wir die Menschen hätten retten können, vergessen? Es wäre möglich gewesen, Menschenleben zu retten. Warum wurde die Hilfe verzögert?"

Christof Jonen, Leiter Internationale Zusammenarbeit Deutsches Rotes Kreuz, über die Arbeit der Hilfsorganisationen im Erdbebengebiet

tagesschau24, 06.02.2024 11:00 Uhr

Das Trauma der Erdbebennacht bleibt

Eine Antwort auf diese Fragen werden die Menschen im Norden Syriens wohl nie bekommen. Für den 15-jährigen Hamza, der durch das Erdbeben sein Bein und seine Eltern verloren hat, bleibt die Erinnerung, das Trauma der Erdbebennacht: "Ich höre die Schreie noch immer, bis heute. Die Schreie aus unserem Haus und von den Nachbarn. Man hat mir gesagt, dass meine Mutter auch lange geschrien hat, bevor sie gestorben ist. Ich kann bis heute keine lauten Worte mehr hören." Und später sagt er: "Viele hier werden dieses Erdbeben nie vergessen."

Anna Osius, ARD Kairo, tagesschau, 06.02.2024 07:47 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 06. Februar 2024 um 08:23 Uhr.