Istanbul

Erdbebengefahr in Istanbul Nicht ob, sondern wann

Stand: 25.02.2023 16:05 Uhr

Nach den schweren Erdbeben in der Türkei ist es vorbei mit der jahrelangen Sorglosigkeit in Istanbul. Experten sind sich sicher, dass auch der Metropole ein Erdbeben droht. Die Einwohner wissen, dass viele Häuser dem nicht standhalten würden.

Die Istanbuler Stadtverwaltung hat zum Pressetermin geladen, um zu zeigen, wie eine Gebäudekontrolle zu Erdbebensicherheit aussieht. Vor einem grünen Wohnhaus in einer ruhigen Seitenstraße im Stadtteil Bakırköy bauen TV-Teams ihre Kameras auf. Sie passen nur nacheinander in die kleine Wohnung, in der die Bausubstanz getestet wird.

Im Treppenhaus versucht ein Nachbar, zwischen den wartenden Journalisten durch die offene Wohnungstür zuzuschauen. Er will auch so eine Prüfung beantragen. "Ich wohne im Haus nebenan. Es ist zwar erst 2005 gebaut worden mit Ingenieurswissen und mit Lizenz, aber trotzdem sind diese Prüfungen für mich sehr wertvoll, denn sie können uns ein Gefühl der Sicherheit geben", sagt er. Seit dem Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze habe sich seine Sorge verstärkt.

Die Verdrängung funktioniert nicht mehr

Istanbul droht ein schweres Erdbeben. Es ist das Gesprächsthema in der Stadt. Die jahrelange Verdrängung funktioniert plötzlich nicht mehr. Unter dem Marmarameer vor der Stadt schieben sich die eurasische und die ostanatolische Kontinentalplatte gegeneinander, und die Aktivitäten auf dieser Verwertungslinie haben sich seit 1939 kontinuierlich nach Westen bewegt - auf Istanbul zu. Das letzte Beben war nur noch 200 Kilometer entfernt.

Fachleute sind sich einig: Die Frage sei nicht ob, sondern lediglich wann es Istanbul trifft. Eine Stärke von über 7,0 gilt als wahrscheinlich. Nach Schätzungen sind bis zu 1,6 Millionen Häuser in der Stadt nicht erdbebensicher.

Ein zerstörtes Haus, von dem die Fassade weggebrochen ist.

Nach dem schweren Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion wurden in der Türkei 184 Menschen unter Verdacht fahrlässigen Handels in Bezug auf eingestürzte Gebäude festgenommen - darunter Bauunternehmer und ein Bürgermeister.

85.000 Einwohner beantragen Kontrolle

In der kleinen Wohnung in Bakırköy wird die 50 Jahre alte Wand aufgebohrt. Ein Mann mit Schutzbrille und Helm nimmt einen Brocken Beton heraus, der später auf Zusammensetzung und Härte überprüft wird. Ein anderer legt eine Art Röntgengerät auf die Wand, um die Stahlbewährungen im Beton zu zählen und zu vermessen. 

Am Rande der Wohnung, in der offenen Küche, steht Aykut. Er wohnt hier und hat den Test beantragt, weil er Klarheit haben will. "Die Leute in Istanbul sind beunruhigt", sagt er. Besonders gelte das für Viertel, wo der Boden schlecht sei und die Gebäude alt. "In jeder Familie suchen die Menschen gerade nach sicheren Orten in der Stadt. Das beschäftigt uns alle. Wie können wir uns vor dem Erdbeben schützen?"

Das Ergebnis des Tests bekommt Aykut in ungefähr zwei Tagen. Ist das Gebäude unsicher, müssen alle ausziehen. Dann kann neu gebaut werden. Nach Angaben der Stadt haben allein nach dem Beben in der Südosttürkei 85.000 Menschen eine Kontrolle beantragt.

"Wo sollen denn dann die ganzen Menschen hin?"

Draußen auf der Straße schlendert ein Nachbar herbei und wundert sich über den Rummel. Dann winkt er ab. "Das sind alles 50, 60, 70 Jahre alte Gebäude hier. Bagiköy ist ein altes Viertel. Es müsste komplett erneuert werden, sonst gibt es ein Problem", sagt er. Die meisten, die hier wohnen, sagt Osman, seien Rentner wie er. Einen Neubau ihrer Häuser mitzufinanzieren, das können sie sich gar nicht leisten.

Er will für sich keine Kontrolle beantragen. "Nein, denn wenn herauskommt, dass das Haus nicht sicher ist, dann wird es geräumt und man muss ausziehen. Und es gibt ja gerade keine Wohnungen zu mieten. Wo sollen denn dann die ganzen Menschen hin?"

Mit dieser Frage trifft Osman das Dilemma. Auf dem extrem angespannten Istanbuler Wohnungsmarkt können nicht alle mal eben so in eine erdbebensichere Wohnung umziehen.

Die Wirtschaftskrise und die Inflation kommen noch dazu. Auch die kostenlosen Gebäudekontrollen ändern nichts daran, dass für viele Menschen in der 16-Millionen-Metropole angesichts des drohenden Erdbebens nicht viel mehr bleibt als das Prinzip Hoffnung.

Benjamin Weber, ARD Istanbul, 25.02.2023 15:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 24. Februar 2023 um 11:51 Uhr.