Türkei Erster großer Prozess zu Erdbeben-Katastrophe
72 Menschen kamen im türkischen Adiyaman in einem einzigen Hotel bei dem verheerenden Erdbeben vor elf Monaten ums Leben. Jetzt müssen sich elf Angeklagte vor Gericht verantworten, weil es erhebliche Baumängel gegeben haben soll.
Vom Isias-Hotel im Zentrum von Adiyaman ist nur noch ein Trümmerfeld übrig. Tayyip steht zusammen mit anderen Eltern am Rand: "Wir sehen hier viele auch ältere Gebäude, die in keinem guten Zustand sind", sagt er. "Die stehen noch. Aber das hier, das modern und stabil aussah.... ist in nur 10 Sekunden eingestürzt."
Der 43-jährige zeigt keinerlei Gefühle. Dabei hat er hier Sahil verloren, seine elf Jahre alte Tochter. Sie schlief am 6. Februar 2023 im vorderen Teil des Vier-Sterne-Hotels - ein völlig verpfuschter Bau, so die Vorwürfe: aufgestockt mit einem illegalen Stockwerk, keine Bodenuntersuchung, die im Erdbebengebiet vorgeschrieben ist, tragende Säulen, die man dünner gemacht hat, um Platz zu gewinnen und minderwertiger Beton, zusammengemischt aus Sand und großen Kieselsteinen.
Experten üben Kritik
Ahmet Can Altunisik lehrt Bauingenieurwesen an einer türkischen Universität. Er hat in dem Fall ein Gutachten erstellt und erklärt im türkischen Fernsehen: "Das Gebäude ist eingestürzt, wie wenn man einen Eimer mit Sand füllt, ihn umdreht und dann nach oben wegzieht. Dann brechen Teile vom Sand weg, der breitet sich aus."
Auf dem Trümmerfeld liegen immer noch Betonbrocken des Hotels, in denen die großen Kieselsteine gut zu sehen sind.
Der Schmerz sitzt noch immer tief
Pervin ist die Mutter der kleinen Serin, die ebenfalls ums Leben kam. Sie selbst wurde in der Erdbebennacht im Hotel verschüttet, überlebte aber. Ihr fehlt die Kraft zum Trümmerfeld zu kommen. Es kostet sie schon genug Überwindung, überhaupt nach Adiyaman zurückzukehren, hier wieder in einem Hotelbett zu schlafen, den Prozess mitzuverfolgen.
"Leider müssen wir jeden Tag auf dem Weg zum Gericht daran vorbeifahren", sagt sie. Sie habe überlegt, ob sie nicht im Hotel, sondern in einem Container übernachten sollen. In einem Zelt wäre es zu kalt, aber in einem Bus? "Wir haben hier jetzt ein Zimmer im obersten Stockwerk bekommen, aber das hat natürlich nichts mit dem obersten oder dem untersten Stockwerk zu tun. Ich glaube nicht, dass ich heute Abend noch schlafen kann."
"Ich habe keine Angst vor ihnen"
Sie zupft nervös an ihren Fingern. Immer wieder kommen ihr die Tränen. Fast alle in der Delegation aus Zypern tragen schwarz, auch Rusen. Auch sie hat ihre Tochter verloren. Auch sie schafft es nicht zum Trümmerfeld. Sie will aber auf jeden Fall in den Gerichtssaal, um den Hotelbesitzer und die anderen Angeklagten zu treffen.
"Ich will ihnen nur in die Augen schauen und sie fragen, was sie meiner Tochter angetan haben - und ihren Freunden", sagt sie. "Ich habe keine Angst vor ihnen, keiner von uns. Wir wollen, dass sie uns sehen, und dass sie sehen, was sie uns angetan haben."
Sie presst die Lippen aufeinander, ihr Blick ist voller Verachtung für die Angeklagten. Für sie sind sie Mörder: "Sie sollen nie mehr die Sonne sehen. Sie sollen in einer kleinen Zelle sitzen, ohne Kontakt zu ihren Lieben, weil sie unsre Kinder umgebracht haben."
Teil der Angeklagten ist in Untersuchungshaft
Tayyip, der Vater der kleinen Sahil, spult am Trümmerfeld Sätze ab - ohne jede Regung: "Wir wollen unbedingt ein positives Ergebnis am Ende dieses Prozesses, das dann vielleicht ähnliche Unglücke verhindert."
Ein Teil der Angeklagten ist in Untersuchungshaft, darunter der Besitzer des Isias-Hotels, der es auch gebaut hat, und ein Architekt. In einem weiteren Prozess sollen sich Behördenvertreter verantworten, die Genehmigungen erteilt haben. Die türkische Regierung hat dafür noch kein Grünes Licht gegeben. Rusen ist sich allerdings sicher, das werde kommen, es müsse kommen.
"Ich will meine Tochter zurück, ich will ihre Freunde zurück", sagt sie. "Sie sollten jetzt in Zypern sein, zur Schule gehen, Spaß haben, Volleyball spielen. Aber stattdessen sind wir hier und kämpfen um Gerechtigkeit für sie." Rusen will diesen Kampf gewinnen, auch wenn es Jahre dauert.