Selenskyj in New York Der harte Kampf an der diplomatischen Front
Heute wird der ukrainische Präsident Selenskyj vor der UN-Vollversammlung sprechen. Ein wichtiger Termin, denn an der diplomatischen Front muss sein Land derzeit mindestens so erbittert kämpfen wie an der militärischen. Worauf kommt es an?
Sanitäter Ihor Jertschenko misst der alten Dame noch den Blutdruck, bevor die Evakuierung losgeht. Kraftlos liegt sie im Bett in ihrem kleinen Haus in Pokrowsk. Wer aus eigener Kraft gehen konnte, habe das getan, sagt Jertschenko. Alte oder kranke Menschen könnten das nicht. "Für solche Menschen ist es sehr schwierig, einen Transport zu finden. Man braucht einen Ambulanzwagen und medizinische Überwachung."
Noch etwa 15.000 Menschen in der Region müssen laut regionaler Militärverwaltung Donezk vor den vorrückenden russischen Truppen in Sicherheit gebracht werden. Vor allem im Osten verliert die Ukraine immer mehr ihrer Gebiete. Seit der Eroberung von Awdijiwka im Februar 2024 sind die Invasoren rund 30 Kilometer Richtung Westen vorgerückt. Dieser Herbst entscheide, was im Krieg als nächstes passiere, sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj. Gemeinsam mit den Partnern könne die Ukraine ihre Positionen so stärken, wie es für einen gemeinsamen Sieg und einen gerechten Frieden notwendig sei.
Kriegsende kommendes Jahr laut Selenskyj realistisch
Niemand wünscht sich den Frieden mehr als die Menschen in der Ukraine. Der Krieg könne bereits im nächsten Jahr beendet werden, macht Selenskyj in den USA Hoffnung. Er hat eine neue Initiative im Gepäck: einen "Siegesplan", über den bisher nichts Konkretes bekannt ist, und der als Grundlage für Gespräche mit Russland dienen soll. Um diese realistisch herbeizuführen, müssten in Washington, Warschau, Bukarest, Berlin oder Paris längst überfällige politische Entscheidungen fallen, betont die ukrainische Führung: Keine Beschränkungen beim Einsatz westlicher Waffen in Russland und verlässliche langfristige finanzielle und militärische Unterstützung.
Bei einem Treffen mit Wirtschaftsvertretern in New York stellte Selenskyj besondere Anreize für Investitionen in die von Russland zum Großteil zerstörte ukrainische Energieinfrastruktur in Aussicht. Dies sei einer der Punkte des Plans und auch der ukrainische Einmarsch in die russische Grenzregion Kursk sei ein wichtiger Baustein. Der Krieg soll vermehrt nach Russland getragen werden, um Druck aufzubauen. All dies sei eine Brücke zum Ende des Jahres geplanten Friedensgipfels, so Selenskyj. Russland hat eine Teilnahme bereits abgelehnt.
"Erbitterte Kämpfe an der diplomatischen Front"
Anders als vor der russischen Invasion sei die ukrainische Diplomatie proaktiv und habe durchaus Erfolge aufzuweisen, sagt Mychailo Paschkow, Analyst beim regierungsunabhängigen Razumkow-Zentrum in Kiew. Als Beispiele nennt er die EU-Beitrittsverhandlungen oder die inzwischen 26 bilateralen Sicherheitsabkommen. Die Diplomatie sei eine zweite Front. "Es gibt eine mehr als 1.000 Kilometer lange militärische Front - und es gibt die wichtige diplomatische Front, an der ebenfalls sehr erbitterte Kämpfe stattfinden."
"Viel hängt von der Sichtweise der USA ab"
Trotz diplomatischer Initiativen hat Kiew das Grundproblem, abhängig vom Westen zu sein. Die Partner haben keine gemeinsame Strategie und werden von innenpolitischen Interessen getrieben. Dabei drängt die Zeit. Der Westen müsse viel mehr Raketen, Artilleriewaffen, Flugabwehrsysteme, Drohnen und Geräte elektronischer Kampfführung produzieren, sagt Mykola Beleskow vom staatlichen Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew. Der wichtigste Partner seien die USA. Und Washington hätte nicht die gleichen Vorstellungen wie Kiew, erklärt der Militäranalyst. Sie seien sich einig, dass die Front stabilisiert werden müsse, ansonsten gäbe es Widersprüche. "Die Frage ist, ob es Selenskjys "Siegesplan" gelingt, die Widersprüche zu überwinden. Viel hängt von der Sichtweise der USA ab. Das wirkt sich direkt auf die Ressourcen aus."
Mit westlichen und eigenen Ressourcen müsse die Ukraine gegen die Massenproduktion russischer Waffen ankommen, sagt Taras Schovtenko, Sicherheitsexperte bei der Stiftung demokratische Initiative in Kiew. Russland habe indes seine Taktik verändert und setze nicht mehr nur auf massiven Artillerie-Einsatz, sondern auf Gleitbomben mit großer Zerstörungskraft. Aufgrund fehlender Lufthoheit sind ukrainische Soldaten an der Front diesen tonnenschweren Bomben praktisch schutzlos ausgeliefert.
Kein Druck auf Russland ohne gemeinsame Strategie
Nur eine Kombination aus militärischem und politisch-diplomatischem Druck könne Russland vor große Probleme stellen, ist Schovtenko überzeugt. "Um mit Druck auf das Putin-Regime zu beginnen, brauchen die Ukraine und ihre Verbündeten einen strategischen Konsens." Das hieße, alle Beschränkungen für ukrainische Angriffe tief in russisches Territorium hinein aufzuheben, so der Militäranalyst.
Der entstehende militärische Druck auf Moskau müsse dann in politischen Druck umgewandelt werden. "Das öffnet die Tür zu Verhandlungen, die das gewünschte Ergebnis für die Ukraine und unsere westlichen Partner bringen."
Das wäre wohl auch im Sinne der zerbrechlichen alten Dame aus Pokrowsk die in den Ambulanzwagen gehievt wird. Da liegt sie nun in ihrem dünnen Nachthemd - kreuzunglücklich und voller Sehnsucht nach Frieden.