Russland und Ukraine Vermittlung durch UN oder China?
Die Aussichten auf Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sind denkbar schlecht, sagt die Konfliktforscherin Deitelhoff. Dennoch gebe es Berührungspunkte. Im Interview skizziert sie, wer vermitteln könnte - und was vorher nicht geschehen sollte.
tagesschau.de: Gibt es nach einem Jahr Krieg überhaupt eine Aussicht, dass sich beide Seiten an den Tisch setzen und über ein Ende der Kampfhandlungen sprechen?
Nicole Deitelhoff: Die Aussichten sind momentan leider nicht sehr günstig. Beide Seiten glauben nach wie vor, dass sie diesen Konflikt auf dem Schlachtfeld entscheiden können. Die beiden möglichen Verhandlungsführer, also die jeweiligen Regierungen beziehungsweise Präsidenten, haben sich auch öffentlich stark gebunden.
Die Ukraine hat bekanntermaßen ein Dekret verfasst, dass es keine Verhandlungen mit Putin geben wird. Und die russische Regierung hat wiederholt deutlich gemacht, dass sie zwar zu Verhandlungen bereit sei, aber eben nur, wenn die Ukraine akzeptieren würde, die Gebiete zu verlieren, die Russland im Herbst widerrechtlich annektiert hat. Das ist keine belastbare Grundlage für Gespräche.
Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Uni Frankfurt und Geschäftsführendes Vorstandsmitglied am Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
"Es gibt Bereiche, in denen man gesprächsfähig ist"
tagesschau.de: Diese Ziele schließen sich auch gegenseitig aus. Wie kann man es trotzdem bewerkstelligen, dass beide Seiten zumindest wieder ansatzweise in ein Gespräch kommen? Es gibt ja Berührungspunkte, sei es bei den Gesprächen über einen Gefangenenaustausch oder im Herbst über Getreidelieferungen aus den ukrainischen Häfen.
Deitelhoff: Wir schauen momentan vor allen Dingen auf diese gegensätzlichen Positionen der Ukraine und Russlands und haben den Eindruck, dass es nie zu Gesprächen kommen kann. Das ist aber falsch. Zum einen gibt es noch immer Felder, in denen kooperiert wird. Das ist das Getreideabkommen. Das sind die völlig geräuschlos ablaufenden Austauschprozesse von Gefangenen. Das heißt, hier gibt es Bereiche, in denen man noch gesprächsfähig ist.
Und in allen Gewaltkonflikten werden erst einmal Maximalpositionen ausgetauscht. Das soll natürlich die eigene Verhandlungsposition möglichst stark machen, deutlich machen, dass man nicht bereit ist, irgendwelche Abstriche zu machen.
Das führt dazu, dass beide Seiten den Eindruck vermitteln, sie könnten gar nicht miteinander. Aber das ist vor allen Dingen ein Teil des Vorgeplänkels. Das ist auch hier der Fall, auch wenn wir es militärisch mit einer relativ schwierigen Situation zu tun haben.
"UN bis jetzt eher Zaungast"
tagesschau.de: Es müsste Vermittler geben, um Gesprächskanäle zu öffnen. Wer könnte das in dieser Situation sein?
Deitelhoff: Wir wissen aus der Forschung, dass die Vermittlung von Dritten ein wichtiges Element ist, um Friedensverhandlungen voranzubringen. Insbesondere, wenn der Krieg schon länger andauert und mit viel Gewalt einhergegangen ist, ist es sonst für beide Parteien sehr schwierig, sich direkt miteinander an den Tisch zu setzen.
In der jetzigen Situation gibt es aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten. Das eine ist ein Friedensprozess unter der Ägide der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen haben es bis jetzt aber kaum geschafft, in diesem Konflikt eine proaktive Rolle einzunehmen, sondern sind eher ein Zaungast geblieben, wenn man einmal von dem Getreideabkommen absieht.
Die andere Variante wäre ein Staat, der zumindest ein Minimum an Vertrauen von beiden Seiten genießt und der gleichzeitig aber auch genügend Einfluss, also auch genug Machtpotenzial hat, die Seiten auch dazu zu bringen, ihm zuzuhören. In der jetzigen Situation könnte das eigentlich nur ein Staat, das wäre die Volksrepublik China. China hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz dargelegt, dass es einen Friedensplan vorlegen möchten. Das klingt so, als hätte es Interesse an einer Vermittlung.
Zugleich gibt es aber auch Äußerungen von der chinesischen Führung, die nicht unbedingt darauf schließen lassen, dass sie wirklich vermitteln will, sondern dass sie auf der Seite einer Partei steht, nämlich der russischen Seite. Das ist eine schlechte Ausgangsbedingung für eine Vermittlung. Man muss beide Seiten ernst nehmen, um glaubwürdige Verhandlungsangebote machen zu können.
Kompromisse nur "unter Ausschluss der Öffentlichkeit"
tagesschau.de: Zumal es die Befürchtung der USA gibt, dass China in diesem Konflikt Russland Waffen liefern könnte und damit auch unmittelbar beteiligt würde. Aber spielen wir das doch weiter durch. Nehmen wir an, es kommt zu einer Anbahnung von Gesprächen, dann geht es in den Gesprächen um Kompromisse. Welche Kompromisse können beide Seiten eingehen, ohne ihre bisherige Position zu gefährden? Was kann Wladimir Putin zugestehen und was kann Wolodymyr Selenskyj zugestehen?
Deitelhoff: Das ist die Kernfrage. Beide Seiten sind nicht bereit, irgendwelche territorialen Zugeständnisse zu machen. Auf der ukrainischen Seite ist das vollkommen verständlich, denn sie soll ja Teile ihres Territoriums, das ihr völkerrechtlich völlig legitim zusteht, abgeben.
Russlands Präsident Putin hat diese vier Oblaste widerrechtlich annektiert und sie zu russischem Territorium erklärt; er pocht darauf, dass sie das bleiben. In einer solchen Situation kann ich mir nur vorstellen, dass man den Status dieser territorialen Bereiche offenlässt und nicht darüber entscheidet, wem diese Gebiete zuzuschlagen sind, sondern eine dritte Lösung in Augenschein nimmt.
Das wäre eine internationale Verwaltung dieser Gebiete. Aus meiner Sicht könnten nur die Vereinten Nationen diese Gebiete über einen gewissen Zeitraum verwalten, um dort am Ende einen Referendumsprozess einzuleiten, der dann international unter transparenten Bedingungen stattfinden würde.
Schon das ist aber eine große Zumutung für die ukrainische Seite. Ich bin nicht sicher, dass sie sich darauf einlassen würde und das ist auch keine Empfehlung von mir. Aber das scheint mir eine der ganz wenigen Optionen zu sein, auf die man hinarbeiten könnte.
Und das muss unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Ansonsten werden wir keine Kompromisse sehen. Das liegt schon allein daran, dass beide Seiten die ganze Zeit mobilisieren mussten, um Unterstützung für ihren jeweiligen Kriegskurs zu bekommen. Sie können jetzt öffentlich keine Abstriche machen, weil das ihnen die Unterstützung nehmen und auch ihr politisches Überleben gefährden könnte. Denn mit einem solchen Zurückrudern, das von vielen als Zeichen der Schwäche gewertet werden würde, würden sie die eigene Position stark untergraben.
"Ausloten, ob irgendwo Spiel drin ist"
tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass Selenskyj vom Westen gedrängt würde, Kompromisse einzugehen, die er bislang ausgeschlossen hat?
Deitelhoff: Das hängt ganz davon ab, wie sich der Konflikt entwickelt. Es könnte natürlich sein, dass, wenn dieser Konflikt noch eine längere Zeit andauert, es dann tatsächlich Versuche geben würde, Einfluss auf die ukrainische Führung zu nehmen, doch kompromissbereiter zu sein.
Ich bin sicher, dass auf beiden Seiten im Hintergrund die ganze Zeit Gespräche stattfinden, dass man immer versucht auszuloten, wo es eine Öffnung der jeweiligen Seite für Gespräche, für Kompromisslösung gibt.
Aber ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch nicht so weit, dass man tatsächlich massiv Druck ausübt. Sondern es geht eher darum, in Gesprächen auszuloten, ob irgendwo Spiel drin ist, ob es irgendwo eine zaghafte Öffnung gibt, von der aus man weiterarbeiten könnte.
"Von Vertrauen kann nicht mehr die Rede sein"
tagesschau.de: Entscheidend ist das Element des Vertrauens bei solchen Gesprächen. Es gab bis zum Krieg zumindest noch auf dem Papier ein Forum für ein solches Zusammenkommen, nämlich das Normandie-Format, an dem unter anderem Deutschland und Frankreich teilgenommen haben. Das ist mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gescheitert. Woher soll das Vertrauen kommen, dass jetzt ein Gesprächsforum, eine Übereinkunft unter Aufsicht der UN tragfähig sein sollte?
Deitelhoff: Das ist ein generelles Problem in allen Gewaltkonflikten. Vertrauen zwischen den Parteien ist dann nicht mehr vorhanden. Das gilt umso mehr, je mehr wir Gräueltaten und Kriegsverbrechen in den Gewaltkonflikten sehen. Und das gilt auch für diesen Konflikt. Von Vertrauen kann hier nicht mehr die Rede sein.
Deshalb kommt es darauf an, ob es Foren gibt, ob es dritte Akteure gibt, die einen solchen Friedensprozess organisieren und beiden Partnern Sicherheitsgarantien übermitteln können, sodass sie in diesem Prozess bleiben. Ersteres können aus meiner Sicht nur die Vereinten Nationen tun. Für Zweiteres sind die großen Staaten gefragt, das heißt die USA, aber auch wichtige EU-Staaten, aber auch China.
Sie müssten beiden Staaten deutlich machen, dass es Sicherheitsgarantien gibt und dass sie sich auch engagieren werden, wenn es um die Umsetzung eines möglichen Friedensplans geht. Nur das könnte dann die Form von Kontrolle und Rückversicherung geben, die die beiden Kriegsparteien an den Tisch bringen und sie vor allen Dingen auch an diesem Tisch halten.
Könnte der Krieg "einfach weiterlaufen"?
tagesschau.de: Kommt es zu keiner Übereinkunft, dann bleibt am Ende nur militärischer Sieg oder Niederlage. Oder nennen wir es Kapitulation. Ist das überhaupt vorstellbar im Falle Russlands?
Deitelhoff: Sieg oder Niederlage ist nicht die bedingungslose Kapitulation und der Einmarsch in das fremde Staatsterritorium inklusive Einnahme der Hauptstadt. Eine Niederlage kann auch ein Rückzug der russischen Truppen aus dem Staatsgebiet der Ukraine sein, ohne formales Abkommen, nicht mal unbedingt mit einem formalen Waffenstillstandsabkommen, sondern zunächst einmal nur mit einer Beendigung der Feindseligkeiten.
Es gibt aber auch ein Drittes - dass ein Krieg einfach weiterläuft mit heißen und kalten Phasen. Dass man sich an einem Frontverlauf festsetzt und ihn von beiden Seiten verteidigt, dass dann aber auch die Gewalthandlungen immer wieder für längere Zeit aufhören, weil die beiden Seiten erschöpft sind. Ohne Gespräche oder ein formales Waffenstillstandsabkommen. Und wenn dann beide Seiten wieder Kraft geschöpft haben oder wenn bestimmte Ereignisse wie Scharmützel oder andere Krisen auftreten, geht es wieder los. Die Option darf man nicht außer Acht lassen.
"Stopp der Waffenlieferungen verhilft Russland zum Sieg"
tagesschau.de: Eine Forderung des in diesen Tagen viel diskutierten Manifestes von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ist, für eine Anbahnung von Verhandlungen die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Ist das zielführend?
Deitelhoff: Nein, das ist es nicht. Jetzt Waffenlieferungen zu stoppen, würde nichts anderes bedeuten, als dass man Russland zum Sieg in diesem Konflikt verhilft. Ich sehe überhaupt nicht, woher dann der Anreiz für die russische Seite kommen sollte, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen.
Die russische Seite kann dann alle Ziele, die sie in den letzten Monaten auch immer wiederholt hat - die "De-Nazifizierung", die "Entmilitarisierung" der Ukraine, umzusetzen - erreichen. Man könnte auch sagen: die Beendigung der ukrainischen Unabhängigkeit.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de. Die Darstellung wurde für die schriftliche Form leicht angepasst.