Russland Das Spiel mit der Ungewissheit
US-Außenminister Blinkens Besuch in Kiew ist eine Antwort an Russlands Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Der Kreml hat inzwischen einen Teilabzug verkündet - doch die eigentliche Kraftprobe fand längst statt.
Was US-Außenminister Antony Blinken mit seinem Besuch in Kiew beabsichtigt, hat er bereits im Vorfeld klargestellt: Er werde "die unerschütterliche Unterstützung der USA für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine im Angesicht der anhaltenden Aggression Russlands bekräftigen", teilte das US-Außenministerium vor wenigen Tagen mit. Ähnlich hatte sich bereits US-Präsident Joe Biden geäußert.
Der US-Senat wiederum hatte zuvor einen Gesetzentwurf für eine Ausweitung der Militärhilfe eingebracht - sowohl Barack Obama als auch Donald Trump waren während ihrer Amtszeit den Wünschen der Ukraine nach Militärhilfe nur begrenzt nachgekommen.
Groß angelegter Test
Blinkens Besuch ist die Antwort der USA auf eine Herausforderung von Russlands Präsident Wladimir Putin. Mitte April schien alles bereit für einen mit der Krim-Annexion im Jahr 2014 vergleichbaren Einmarsch: Die russischen Streitkräfte hatten Zehntausende Soldaten und schweres Militärgerät an der westlichen Grenze Russlands zusammengezogen. Am 21. April hielt Putin seine jährliche Ansprache vor beiden Kammern des Parlaments - doch die Ukraine erwähnte er mit keinem Wort, ebensowenig den Truppenaufmarsch.
Seine klarste außenpolitische Ansage war die Warnung, Russland werde "asymmetrisch, schnell und hart" reagieren, wenn seine "guten Absichten als Schwäche ausgelegt" würden. Er sprach von "roten Linien", ohne sich festzulegen: "Wo diese liegen, werden wir in jedem einzelnen Fall selbst entscheiden." Tags darauf verkündete Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Teilrückzug der Truppen.
Ohne einen Schuss war es Putin gelungen, weltweit Aufmerksamkeit zu erregen. Die Kriegsrhetorik russischer Staatsmedien und die Bilder von Panzern und anderem Militärgerät in sozialen Medien trugen das ihre dazu bei. Die Führung um Putin konnte so nicht nur die Gefechtsbereitschaft der eigenen Truppen testen, sondern auch die Reaktionen der Ukraine, Europas und der USA.
Truppen bleiben teils für Sommermanöver
Nach dem angekündigten Abzug bleibt nun große Ungewissheit: Bei einem Frontbesuch kürzlich sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, das Militär müsse jederzeit auf eine Rückkehr der russischen Truppen vorbereitet sein.
Denn nicht alle Landstreitkräfte wurden abgezogen. Im Gebiet Woronesch 150 Kilometer von der Grenze zur Ukraine bleiben Truppen und militärische Ausrüstung der 41. Armee stationiert, dies zur Vorbereitung auf die Großübung "Sapad 2021" im Spätsommer.
Auch im Schwarzen Meer um die annektierte Krim und den Eingang des Asowschen Meeres bleibt die Lage angespannt. Nach einer Militärübung mit Kriegsschiffen mehrerer russischer Flotten bleiben die Gewässer dort für Schiffe anderer Staaten bis 31. Oktober gesperrt. Der Ukraine wird die Zufahrt zu ihren eigenen Häfen dort erschwert.
Zur Begründung verwies Russlands Verteidigungsminister Schoigu auf länger geplante NATO-Übungen, die unter anderem in Rumänien, Bulgarien und Ungarn stattfinden. Allerdings zeigen sich die USA im Schwarzen Meer derzeit zurückhaltend. Auf die geplante Fahrt zweier Kriegsschiffe durch das Schwarze Meer verzichtete die US-Marine. Derzeit ankert ein kleineres Patrouillenschiff der US-Küstenwache im georgischen Schwarzmeerhafen Batumi.
Angst schüren - der eigentliche Plan?
Sicherheitsexperten warnen denn auch davor, zu sehr auf den Umfang russischer Truppenaufmärsche zu fokussieren. Russland habe an seiner Grenze beeindruckende militärische Ausrüstung aufgefahren, nicht aber genug logistische und unterstützende Einheiten für eine vollständige und nachhaltige Invasion - das schreibt etwa Sicherheitsexperte Mathieu Boulègue von der Denkfabrik Chatham House in London.
Vielmehr habe Russland Angstmache betreiben und Informationsdominanz erreichen wollen. Zu vergleichbaren Einschätzungen, dass es sich um eine Demonstration der Stärke handele, gelangten russische Militärepxerten wie Michael Kofman.
Unberechenbarkeit als Instrument
Die kürzlich aktualisierte Bedrohungsanalyse des US-Militärgeheimdienstes DIA beschreibt russische Außen- und Sicherheitspolitik als Kombination militärischer, politischer, nachrichtendienstlicher und anderer Aktivitäten unterhalb der Schwelle eines direkten Konflikts mit dem Westen.
Fiona Hill, die für drei US-Präsidenten als Sicherheits- und Osteuropaexpertin gearbeitet hat, nennt Unberechenbarkeit eines der Instrumente Putinscher Außenpolitik. Dazu gehöre auch, offen zu lassen, wo genau er "rote Linien" sehe. Auf diese Weise könne er die Agenda bestimmen. Anderen Akteuren bleibe nur, darauf zu reagieren.
Auf diese Taktik hatte Putin schon während Obamas Präsidentschaft gesetzt. Nicht verwenden konnte er es bei Donald Trump, der mit Regelbrüchen und erratischem Verhalten selbst unberechenbar war.
Als Gegenmittel schlägt Hill den USA und Europa Mittel der Diplomatie vor. Sie sollten selbst klare Ansagen an Putin über eigene "rote Linien" und Konsequenzen beim Überschreiten dieser machen. Wichtig sei gemeinsames und solidarisches Handeln von Amerikanern und Europäern. Andere Experten schlagen zum Beispiel vor, die Ukraine zu wichtigen hochrangigen internationalen Treffen einzuladen - als Zeichen an Russland, aber auch an Kiew, sich ernst genommen zu fühlen.