Suizidversuche in Polen Immer noch ein Tabuthema
Mehr als 2000 Kinder und Jugendliche in Polen haben im vergangenen Jahr versucht, sich das Leben zu nehmen. Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine - all das hat Spuren hinterlassen. Professionelle Hilfe gibt es jedoch kaum.
Die Erinnerungen sind brüchig. Sie wisse nicht mehr viel, sagt das Mädchen. Nur, dass ihre Mutter sie gefunden habe - nach dem Suizidversuch. Sie erinnere sich, dass sie dreimal die Augen aufgemacht habe: einmal im Rettungswagen, einmal im Bett auf einem Krankenhausflur und dann, als ihr ein Arzt etwas zurief. Der Rest sei Nebel.
"Aufgewacht bin ich erst nach zwei oder drei Tagen", sagt sie - anonym und mit verstellter Stimme im Gespräch mit dem polnischen Fernsehsender TVN. Suizid ist auch und gerade im katholischen Polen ein tabuisiertes Thema.
Aber eines betont das Mädchen: Als sie im Krankenhaus aufwachte, sei ihr klar geworden, dass sie eine von vielen Jugendlichen in der Krise ist. Immer wieder sei freundlich gefragt worden, warum man denn im Krankenhaus sei, erzählt sie: "Und überall habe ich dann gehört: Suizidversuch, Suizidversuch, Suizidversuch. Also - es sind viele Leute dort."
Nicht alle Versuche werden erfasst
Insgesamt 2031 Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen hat die polnische Stiftung "Grow Space" für das vergangenen Jahr erfasst, basierend auf Angaben der Polizei. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. 150 Menschen haben den Versuch nicht überlebt.
Für Deutschland liegen Zahlen nur für 2021 vor. Hier waren es 189 Todesfälle. Auf die Bevölkerungsgröße umgerechnet, liegt die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen in Polen also um etwa zwei Drittel über der deutschen.
Hinter den Jugendlichen liegen schwierige Jahre. Lockdowns und Lebenssorgen haben viele von ihnen an den Rand der Überforderung gebracht.
"Erschreckende Zunahme"
Im Vergleich zu 2020, sagt Dominik Kuc von "Grow Space", sei die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen in Polen um 150 Prozent angestiegen: "Das ist eine erschreckende Zunahme an Selbstmordversuchen."
Die Betroffenen litten oft unter "psychischen Störungen, schwierigen Familienverhältnissen oder Mobbing in der Schule". Am Schlimmsten sei, dass es auch schon Suizidversuche bei unter Zwölfjährigen gegeben habe, sagt Kuc bei einer Kundgebung vor dem Warschauer Bildungsministerium mit Betroffen, Psychologen und Aktivisten für eine bessere psychologische Versorgung der Kinder. Die Stiftung hat eine Petition vorbereitet.
"Enorme Suizidkrise"
Mit dabei ist die junge Psychologin Paulina Filipowicz. Sie beginne ihre Karriere in einer Zeit, "in der wir es mit einer enormen Suizidkrise zu tun haben", erklärt sie. "Wir wissen, dass die Wirklichkeit für Kinder nicht leicht ist."
Sie kämen aus einer Pandemie mit Homeschooling und wenig Kontakt zu anderen Kindern in ein Leben mit Krieg im Nachbarland. Angst- und Anpassungsstörungen seien eine Reaktion darauf.
Das Gesundheitssystem ist überfordert
In ganz Polen stehen lediglich 455 Psychiater für junge Menschen bereit. Für Erwachsene sind es fast 4000. Mitarbeiter aus Kinderkrankenhäusern berichten von überfüllten Stationen, von Patienten, die auf dem Flur schlafen, weil man sie nicht nach Hause schicken kann, aus Angst vor weiteren Suizidversuchen, von viel zu wenig Personal für viel zu viele Hilfsbedürftige.
Und davon, dass im katholischen Polen noch immer viele Kinder in psychischer Not eher in die Kirche als zum Arzt geschickt würden. Tabuisiert sind die Krankheit, aber auch ihre Behandlung, sagt Paulina Filipowicz: "Wir dürfen keine Angst haben, über Suizide zu sprechen."
"Ein Ruf nach Hilfe"
Immer noch sei die Haltung verbreitet, wer über Suizide spreche, schade den Kindern und Jugendlichen. "Aber jeder Suizidversuch ist zugleich eine große Tragödie und ein Appell, ein Ruf nach Hilfe", sagt Filipowicz.
Es sei die Pflicht der Erwachsenen, den Kindern zu helfen, gerade weil sie zu jung sind, um sich selbst helfen zu können. Sie hat die Petition an das Bildungs- und das Gesundheitsministerium unterschrieben. Es ist ein Hilferuf - stellvertretend für die polnischen Kinder.
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