Die EU und Polen Warten auf das Ende des Wahlkampfes
Die amtierende polnische Regierung schürt Ängste vor einem europäischen Superstaat. Besonders beim Thema Migration gibt sie sich seit Jahren kompromisslos. In Brüssel sehnt man deshalb das Ende des Wahlkampfs herbei.
Die Ankündigung der Tagesordnung war noch ganz allgemein gehalten: "Korrupter Verkauf von Schengen-Visa im großen Stil." Doch schon bevor sich kürzlich Margaritis Schinas, Vize-Präsident der EU-Kommission, auf den Weg ans Rednerpult machte, war klar, um wen es nun im Europaparlament in Straßburg gehen würde: Polen, dessen nationalkonservative Regierung sich mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert sieht.
Laut polnischen Medien sollen bis zu hunderttausende fragliche Arbeitsvisa ausgestellt worden sein, und zwar schneller, wenn die Antragsteller große Summen zahlten. Von einem "Visa-Skandal" spricht öffentlich Bundeskanzler Olaf Scholz: "Ich möchte nicht, dass aus Polen einfach durchgewinkt wird." Die Regierung in Warschau bestreitet das Ausmaß.
Die EU-Kommission, die selbst gerne auf ihre Rolle als Hüterin der Verträge hinweist, hat die Aufgabe, solche Vorwürfe aufzuklären. Zufrieden war man mit den anfänglichen Antworten der polnischen Regierung nicht. Das macht Vizepräsident Schinas sehr deutlich. Öffentlich. Im Plenarsaal des Parlamentes. Wenige Tage vor der Wahl. "Wir brauchen volle Klarheit, um das Vertrauen wiederherzustellen."
"Mit viel Sorge"
Es ist ein weiteres Problem, das sich zwischen der Europäischen Union und Polen auftut, dem nach Einwohnern fünftgrößten EU-Mitglied. Wenn sich jetzt die Regierung zur Wiederwahl stellt, ist die Aufmerksamkeit groß. "Sehr gespannt und mit viel Sorge" würden viele in der EU nach Polen schauen, sagt Thu Nguyen vom Forschungsinstitut Jacques Delors Centre: "Es ist für die Zukunft der EU schon bedeutend, ob sich so ein großer Mitgliedstaat an die grundlegenden Regeln und Werte hält."
Genau darüber gibt es seit Jahren heftigen Streit - vor allem über die Frage: Wie hält es Polen mit dem Rechtsstaat? 2021 hatte das polnische Verfassungsgericht zunächst entschieden, dass das Land nicht verpflichtet sei, Anordnungen des Europäischen Gerichtshofes zu befolgen. Es folgte das Urteil, die EU-Verträge seien teilweise nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar. Die EU-Kommission reagierte mit Vertragsverletzungsverfahren.
Nicht zum ersten Mal. Es gibt mittlerweile eine lange Chronik von Verfahren rund um die polnische Justizreform. Der Vorwurf: die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern sei beschnitten, das Prinzip der Gewaltenteilung in Gefahr. In einem zentralen Urteil hatte der Europäische Gerichtshof im Sommer entschieden, die polnische Justizreform verstoße gegen EU-Recht. Ein Einlenken in Warschau war danach nicht zu erkennen.
Streit mit handfesten Konsequenzen
Für Polen, einem der größten Netto-Empfänger, hat der Streit über die Justizreform handfeste finanzielle Konsequenzen. Die EU-Kommission blockiert Auszahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von 36 Milliarden Euro, 24 Milliarden davon sind Zuschüsse. Durch vom Europäischen Gerichtshof verhängte Zwangsgelder ist bisher eine Summe von mehreren Hundert Millionen aufgelaufen.
Seit Jahren gibt es Auseinandersetzungen. Die polnische Regierung warnt immer wieder vor einem europäischen "Superstaat". Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte bei seiner Europa-Rede in Heidelberg in diesem Jahr sogar das Wort "Gleichschaltung" benutzt. Besonders beim Thema Migration will man sich von außen keine Vorschriften machen lassen.
Blockadehaltung in der Migrationspolitik
Die von den EU-Staaten mit Mehrheit beschlossene Verteilung von Flüchtlingen im Jahr 2015 hatte das Land einfach nicht umgesetzt. Zeitgleich mit der Wahl will die Regierung eine Volksabstimmung über die EU-Asylpolitik machen - mit einer Frage, die laut Beobachtern klar auf eine Ablehnung abzielt.
Aktuell lehne Polen in den EU-Verhandlungen zu diesem Thema jeden Kompromiss kategorisch ab, sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel. Diese totale Blockadehaltung zeige sich aber nicht in allen Bereichen: "In der Klimapolitik ist Polen ein Bremser, aber durchaus zu Kompromissen bereit, verhandelt hart, aber konstruktiv."
Spannungen mit der Ukraine
Und dann wäre da noch das Verhältnis zur Ukraine. Polen hatte anfangs viele Flüchtlinge aus dem angegriffenen Nachbarland aufgenommen und hatte sich bei Waffenlieferungen als treibende Kraft präsentiert. Kürzlich klang es dann plötzlich so, als wolle Polen die Waffenlieferungen stoppen. Die Regierung fühlt sich missverstanden.
Und doch stand im Raum, dass die enge Solidarität der EU mit der Ukraine stärkere Risse bekommen könnte. Auch bei den Getreideexporten aus der Ukraine gab es Ärger mit Polen.
Ein mögliches Erklärungsmuster: Zuletzt wurde sehr viel intensiver über einen EU-Beitritt der Ukraine gesprochen. Dadurch sei die Diskussion über die EU-Erweiterung in eine neue Phase gekommen, sagt Thu Nguyen vom Jacques Delors Centre: "Alle schauen jetzt genauer auf die Debatte, was das eigentlich für die EU und die einzelnen Länder konkret bedeutet."
Langer Streit lässt sich nicht schnell zurückdrehen
Von einem Wahlsieg durch Oppositionsführer Donald Tusk erhoffen sich viele in der EU, dass Zusammenspiel und Kompromisssuche mit Polen in Zukunft einfacher werden. Allerdings: Der jahrelange Umbau des Rechtsstaates ließe sich nicht mal eben zurückdrehen.
Politikwissenschaftler von Ondarza sagt dennoch: "Unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen: Die Erleichterung wird erstmal groß sein, dass Polen aus diesem Wahlkampfmodus herauskommt."