"New York Times" zu Kostjantyniwka US-Bericht sorgt für Unmut in Kiew
Eine fehlgeleitete Abwehrrakete könnte im ukrainischen Kostjantyniwka 16 Menschen getötet haben - so Recherchen der "New York Times". Belegt ist weder der Bericht noch das Dementi. Der Fall zeigt, wie schwierig unabhängige Berichterstattung im Krieg ist.
Dieses Rechercheergebnis war schmerzhaft für die Menschen in der Ukraine. Anfang vergangener Woche berichtete die US-amerikanische "New York Times", es gebe ernstzunehmende Hinweise darauf, dass es eine fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrrakete war, die am 7. September 16 Menschen auf einem Markt in der Ostukraine getötet hatte - und nicht, wie von unter anderem von Präsident Wolodymyr Selenskyj angegeben, ein erneuter gezielter Angriff Russlands auf ukrainische Zivilisten.
Von einem "skandalösen Bericht" schrieben viele ukrainische Medien. Offizielle Stellen dementierten, verwiesen auf noch nicht abgeschlossene Ermittlungen. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak klagte auf Twitter, solche Berichte würden Verschwörungstheorien fördern.
Unabhängig belegt ist bis heute weder die Recherche der "New York Times" noch die Darstellung ukrainischer Behörden.
Gezielter Beschuss selten unabhängig nachweisbar
Wegen der zahlreichen, von unabhängigen Stellen dokumentierten massiven russischen Kriegsverbrechen gegen ukrainische Zivilisten, fällen ukrainische Behörden und Medien mittlerweile oft ein schnelles Urteil. So auch im Fall der Rakete in Kostjantyniwka. Der ukrainische Präsident beschuldigt "russische Terroristen" und spricht von "völliger Unmenschlichkeit" und der "Unverfrorenheit des Bösen".
Doch ob Beschuss von Zivilisten im Krieg gegen die Ukraine immer gezielt ist, kann nur in wenigen Fällen zweifelsfrei nachgewiesen werden. Tatsache ist: Jeden Tag greift Russland die Ukraine mit Artillerie, Raketen und Drohnen an und trifft dabei immer wieder auch Zivilisten. Tatsache ist auch: Für die täglichen Angriffe interessieren sich im Ausland zunehmend weniger Menschen.
"Narrative sind wichtiger als Fakten"
"Es müssten gar keine Raketen abgeschossen werden, wenn es keinen russischen Angriffskrieg geben würde", argumentiert Kommunikationsexperte Oleksij Chartschenko und spricht damit einem großen Teil der ukrainischen Bevölkerung aus der Seele. Dass dieser Fakt in der Berichterstattung der "New York Times" nicht erwähnt wurde, ärgert ihn. Für Chartschenko ist Journalismus mehr als nur eine Ansammlung von Fakten. "Fakten sind wichtig, aber das Narrativ ist wichtiger", meint er.
Der Fall Kostjantyniwka zeigt neben den praktischen Schwierigkeiten der Berichterstattung über den russischen Angriffskrieg auch, wie eng der öffentliche Diskurs im Land geworden ist. "Abgesehen vom Krieg an der Front gibt es einen Informationskrieg. Und natürlich handeln wir im Interesse des ukrainischen Volkes", sagt Oleksandr Tschubukin, Lokaljournalist aus Saporischschja. Auch seine Heimatstadt wird regelmäßig beschossen. Zuletzt traf eine Rakete unter anderem ein bei Hilfsorganisationen, Journalisten und Soldaten beliebtes Hotel.
Unabhängige Recherchen am Einschlagsort kaum möglich
Eine räumliche Trennung zwischen Zivilisten und Soldaten ist in der Süd- und Ostukraine praktisch unmöglich. "In jedem Gebäude in Saporischschja könnten sich Soldaten aufhalten, weil sie ständig in der Stadt unterwegs sind. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um zivile Objekte, weil die Soldaten auch etwas zum Wohnen brauchen oder einkaufen gehen oder Pakete abholen." Die Front ist nur rund 35 Kilometer entfernt.
Werden bei einem Raketeneinschlag viele Zivilisten getötet, informiert häufig zuerst das ukrainische Präsidialamt über den Vorfall. "Das Präsidialamt versucht ein Informationsmonopol zu kreieren", sagt Tschubukin. Und Journalisten wie er können die Angaben oft unabhängig nicht überprüfen. Auch wenn sie direkt vor Ort sind. Denn nach einem Einschlag beginnen zunächst ukrainische Ermittlungsbehörden mit der Beweissicherung. Journalisten wird der Zugang oft erst einmal verwehrt. Ein normales Vorgehen, meint Tschubukin und verweist auf Sicherheitsgründe.
Sicherheitsgründe schränkten Veröffentlichungen ein
Denn am Einschlagsort könnten sich noch nicht explodierte Gegenstände befinden. Zu früh veröffentlichte Aufnahmen könnten den russischen Truppen zur Überprüfung und Korrektur ihres Ziels dienen. Auch die Gefahr eines zweiten Angriffs auf Helfer, Ermittler oder Journalisten sei groß, erklärt der Lokaljournalist. "Erst wenn etwas bereits von den regionalen Behörden oder dem Büro des Präsidenten gezeigt wurde, veröffentlichen wir solche Informationen", sagt Tschubukin.
Wie er hält sich die überwiegende Mehrheit der Berichterstatter in der Ukraine an solche Regeln. Einschlagsorte oder wichtige Objekte dürfen nicht gefilmt, ihr Standort nicht genannt werden. Eine Verletzung dieser Regel durch Journalisten hat in der Vergangenheit schon zu Todesopfern geführt.
Vorwurf der russischen Propaganda
Gleichzeitig müssen sich kritische Berichterstatter schnell den Vorwurf der russischen Propaganda gefallen lassen. Einer der Autoren des Artikels in der "New York Times" sei schon vorher aufgefallen, weil er vermeintlich "russische Narrative" verbreite, berichten viele ukrainische Medien. Zweimal sei ihm die Akkreditierung entzogen worden. Hintergrund waren Berichte über Tauschhandel mit westlichen Waffen an der Front und der Einsatz der Ukraine von Streumunition. Die Angst, negative Berichterstattung könne dem Ansehen der Ukraine im Ausland schaden, ist groß.
"Wir wollen doch sehr hoffen, dass die Journalisten mit der Veröffentlichung nur auf den Hype aufspringen und nicht den Besuch von Präsident Selenskyj in den USA zum Scheitern bringen wollten", sagt Ihor Solowej, Leiter des Zentrums für strategische Kommunikation des ukrainischen Kulturministeriums.
Misstrauen gegenüber unangenehmen Reportern
Das Zentrum entwickelt laut eigenen Angaben "Narrative, um das Image der Ukraine in den Bereichen zu stärken, die am stärksten im Visier der Aggressoren sind". In der Praxis handele es sich dabei vor allem um die Bekämpfung russischer Propaganda. Die streut seit Jahren nachweislich und gezielt falsche Angaben und widersprüchliche Informationen mit dem Ziel, Misstrauen und Zweifel zu säen. "Sie versuchen einen Konflikt zwischen Gesellschaft und Politik in demokratischen Ländern zu provozieren", sagt Solowej.
In der Folge ist das Misstrauen gegenüber Reportern, die für die Ukraine unangenehme Recherchen veröffentlichen, groß. Der ukrainische Geheimdienst habe bereits als Journalisten getarnte russische Agenten in der Ukraine aufgespürt, so Solowej. Gleichzeitig ist sich die Ukraine der Relevanz von unabhängiger Berichterstattung über den Angriffskrieg bewusst. "Wir verstehen sehr gut, dass es ohne die Hilfe unserer Partner sehr schwer sein wird, weiter zu kämpfen", sagt Solowej.