Ukraine und Russland "Der Krieg wird auf jeden Fall bis 2025 dauern"
Der Ukraine-Krieg dürfte frühestens 2025 beendet werden, erwartet der Militärexperte Gressel. Im Interview spricht er über den Verlauf der ukrainischen Offensive und den Vorteil, den nicht-modifizierte "Taurus"-Raketen für das Land hätten.
tagesschau.de: Wir lesen in diesen Tagen viele scheinbar widersprüchliche Meldungen. Die ukrainischen Truppen hätten sich in den Minengürteln der russischen Armee festgelaufen, heißt es. Dann wiederum lesen wir von Eroberungen einzelner Dörfer. Wie beschreiben Sie den Verlauf der ukrainischen Offensive?
Gustav Gressel: Die ukrainische Offensive liegt eindeutig hinter den ursprünglichen Erwartungen und den operativen Zielsetzungen zurück, die Küste des Asowschen Meers zu erreichen und die Krim von den restlichen russischen Einheiten abzuschneiden. Das ist angesichts der Höhe der Verluste gegenwärtig zumindest unrealistisch. Derzeit zielt die ukrainische Offensive offenbar vor allem auf die südliche Stadt Tokmak im Gebiet Saporischschja.
Dort sind die russischen Verteidigungsstellungen aber sehr tief, sodass es schwierig sein könnte, sie zu durchbrechen. Es gibt aber einzelne Erfolge. Die Ukrainer haben vor Kurzem angefangen, abgenutzte Einheiten von der Front abzuziehen und sie durch neue zu ersetzen. Die haben mehr Kräfte und sind bei den Angriffen frischer.
Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalytiker beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.
Hat die Ukraine genügend Reserven?
tagesschau.de: Könnte ein Durchbruch an anderer Stelle gelingen?
Gressel: Ein Durchbruch könnte zwischen Saporischschja und Donezk bei der Siedlung Welyka Nowosilka gelingen, aber wenn man dann südlich in Richtung Berdjansk vorstoßen will, ergibt das eine sehr lange Achse. Und ich bin nach drei Monaten Offensive zunehmend skeptisch, dass die Ukraine genügend Reserven aufbringen kann, um einen solchen Durchbruch auszunutzen.
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
tagesschau.de: Klagen über abgenutzte Kräfte hört man auch aus der russischen Armee, zuletzt nach der Einnahme des Dorfes Uroschajne. Anschließend beschwerte sich ein russischer Kommandeur über die schlechte Qualität seiner Soldaten. Ist das symptomatisch?
Gressel: Das ist meiner Ansicht nach symptomatisch für beide Streitkräfte. Die Abnutzung in diesem Krieg war enorm und auf russischer Seite ein bisschen höher als auf ukrainischer Seite. Beide Seiten ergänzen sich durch Reserven. Das Personal, das mobil gemacht wird, ist jeweils immer älter. Die militärische Ausbildung, die es vor der Mobilmachung bekommen hat, liegt immer weiter zurück, die Vergessenskurve steigt an, die Professionalität lässt nach. Das ist für Kommandeure auf beiden Seiten ein Problem.
Auf der russischen Seite kommt hinzu, dass durch das Ausbleiben von Rotationen die Moral zum Teil schlechter ist und dass gerade ältere Leute durch die Dauerbelastung schneller an ihre Grenzen kommen. Die Frage ist, wie sehr das den Ukrainern zugute kommt.
Offensive aus politischen Gründen?
tagesschau.de: Andererseits rückt die russische Armee im Norden vor; in der vergangenen Woche ließ die ukrainische Führung die Region Kupjansk räumen. Welche militärische Bedeutung hat dieser Frontabschnitt?
Gressel: Der militärische Wert ist gering. Die Ukrainer vermuten, dass die russische Armee im Norden 100.000 Soldaten und 900 Kampfpanzer zusammengezogen hat - Kräfte, die sie eigentlich brauchen würde, um die ukrainischen Angriffe im Süden abzuwehren und dort rotieren zu können.
Es gibt aber einen Zwiespalt zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Generälen. Die Armeeführung drängt darauf, sich stärker auf die Defensive zu verlegen und die ukrainische Armee abzunutzen. Putin dagegen verlangt, dass die Oblaste Donezk und Luhansk vollständig "befreit" werden. Kupjansk liegt auf der Nordroute in Richtung der Städte, die im Oblast Donezk noch unter ukrainischer Kontrolle sind - Slowjansk, Kramatorsk und Bachmut. Deshalb ist zu vermuten, dass Putin diese mögliche Offensive aus politischen Gründen angeordnet hat.
"Relativ kindische Diskussion"
tagesschau.de: Angesichts der anhaltenden Angriffe auf ukrainische Städte und die Infrastruktur drängt die Ukraine auf eine Lieferung von Waffen, die die Flugabwehr verbessern. Da geht es auch um "Taurus"-Raketen aus Deutschland. Die will die Bundesregierung offenbar technisch einschränken, bevor sie sie liefert. Ist das eine nachvollziehbare Haltung?
Gressel: Sollte es tatsächlich darum gehen, wäre das eine relativ kindische Diskussion. Es gibt eine Übereinkunft der Ukrainer mit den Briten und Franzosen, gelieferte Raketen vom Typ "Storm Shadow" und "Scalp" nur auf ukrainischem Territorium einzusetzen, also nicht Russland selbst damit anzugreifen. Daran hält sich die Ukraine. Auch wenn die "Taurus" eine weit größere Reichweite hat, als die Ukraine dafür benötigt, gäbe diese Reichweite den ukrainischen Kampfflugzeugen die Möglichkeit, diese Marschflugkörper aus relativ sicheren Räumen in der Westukraine abzufeuern. Diesen taktischen Vorteil sollte man den Ukrainern nicht nehmen.
Aber vielleicht geht es auch um etwas anderes. "Taurus" ist für Deutschland und Schweden ein wichtiger Bestandteil der eigenen Verteidigung im Ostseeraum, sollte es zu einem Angriff durch Russland kommen. Dazu ist die "Taurus" gebaut und ausgelegt. Wenn sie jetzt aber in der Ukraine zum Einsatz kommt, sehen die Russen, wie die Lenkwaffe funktioniert. Deshalb wäre es denkbar und nicht ungewöhnlich, dass man durch gewisse Modifikationen den Russen verwehren will, die genauen technischen Details der Rakete auszukundschaften.
"Russland und die Ukraine wollen eine Entscheidung"
tagesschau.de: Medienberichte über angebliche Äußerungen des Stabschefs von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu möglichen Friedensverhandlungen haben in dieser Woche Aufsehen erregt. Die Berichte wurden zwar dementiert. Ist die Annahme, dass auch derlei Gedanken durchgespielt werden, dennoch naheliegend?
Gressel: Die NATO selbst ist damit nicht befasst, aber es wird Regierungen der Verbündeten geben, die über solche Dinge nachdenken. Das Weiße Haus und das Kanzleramt in Berlin sind klar darauf ausgerichtet, dass die Ukraine irgendwann mit Russland verhandeln muss und die Waffenlieferungen dem Ziel dienen, die Ukraine in eine bessere Verhandlungsposition als Russland zu bringen. Sie sollen der Ukraine aber nicht ermöglichen, Russland militärisch zu besiegen.
Das Problem dabei ist, dass Russland und die Ukraine in diesem Krieg eine Entscheidung haben wollen. Russland strebt weiter die komplette Vernichtung der Ukraine als selbständigen Staat an und will nichts verhandeln, was unterhalb dieses Kriegsziels ist. Die Ukraine auf der anderen Seite bezeichnet diesen Krieg immer mehr als ihren Unabhängigkeitskrieg und will, dass Russland am Ende gezwungen sein wird, die Ukraine als unabhängigen Staat anzuerkennen. Es sollen dann keine territorialen Fragen mehr offen bleiben, damit Russland nicht über Pseudo-Republiken oder annektierte Gebiete weiter einen Fuß in der Tür hat.
Der Wunsch nach Verhandlungen spiegelt also nicht die politische Realität der kämpfenden Parteien wider. In dem Sinne kann man diesen Wunsch eigentlich getrost ignorieren.
"Krieg wird auf jeden Fall bis 2025 dauern"
tagesschau.de: Ich schließe daraus, dass Sie mit dem Fortgang des Krieges mindestens auch im kommenden Jahr noch rechnen.
Gressel: Man muss damit rechnen, dass dieser Krieg auf jeden Fall bis 2025 reichen wird. Sollte Donald Trump im November 2024 die US-Präsidentschaftswahl gewinnen, könnte er aus russischer Sicht im Januar 2025 einen Deal anbieten, sodass Frühling 2025 der früheste Zeitpunkt wäre, zu dem der Krieg zu den eigenen - russischen - Bedingungen beendet werden könnte. Wenn Biden die Wahl dagegen gewinnt, was im Moment ja etwas wahrscheinlicher ist, ist damit zu rechnen, dass der Krieg über 2025 hinaus dauert.
"Viel Zeit mit sinnlosen Debatten vergeudet"
tagesschau.de: Ist der Westen darauf eingestellt?
Gressel: Putin ist darauf eingestellt - er kalkuliert damit, dass in einem langen Abnutzungskrieg Russlands Siegchancen größer sind. Weil sich Russland mit dem Sanktionsregime arrangiert hat, wird es langfristig ein Vielfaches mehr an schweren Waffensystemen produzieren als der Westen.
Dessen Depot ist schneller aufgebraucht als das russische, und es gibt anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn hier keine ernsthaften Anstrengungen, die rüstungsindustriellen Maßnahmen hochzufahren, wenn man von der Artilleriemunition einmal absieht. Es müssten mehr Panzer, Schützenpanzer, Lenkwaffen und Flugkörper gebaut werden, um die Ukraine über mehrere Jahre im Krieg halten zu können und nicht jedes Mal aufs Neue zu diskutieren, was man der Ukraine aus dem Bestand liefert.
Wir haben viel Zeit mit sinnlosen Debatten vergeudet. Putin rechnet dank seiner Sozialisierung im KGB damit, dass die westlichen Demokratien schwach und zerstritten sind und an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde gehen werden. Und es gibt aus Washington und Berlin kein Signal, das ihn in seinem Glauben erschüttern würde. Dazu braucht es schon ein wenig mehr als nur Symbolik oder gelegentliche "Whatever it takes". Es müssten Taten folgen, und das geschieht nicht.
"Die Opfer verstärken die Entschlossenheit"
tagesschau.de: Wie erleben Sie bei Ihren Besuchen in der Ukraine, wie die Bevölkerung mit dieser Perspektive zurecht kommt? Hat sich irgendwas am Behauptungswillen der Menschen dort geändert?
Gressel: Am Behauptungswillen hat sich nichts geändert. Aber natürlich sind die Leute nach eineinhalb Jahren Krieg erschöpft. Viele sind in wenigen Monaten eine Dekade gealtert. Es gibt große Ängste, was die Zukunft der Ukraine angeht, ob sie nach diesem Krieg ein lebensfähiger Staat bleiben wird. Oder bleibt sie von einer riesigen Front zerschnitten unter einem Waffenstillstand, den Russland nur dazu verwenden wird, um aufzurüsten und dann von Neuem mit dem Krieg zu beginnen.
Die persönlichen Opfer der Leute sind enorm. Jeder hat Verwandte, Freunde und Bekannte, die gefallen sind. Damit stellt sich für jeden die Frage: wozu? Viele sagen deshalb: Jetzt erst recht. Jetzt muss dieser Krieg eine Entscheidung herbeiführen. Die Opfer dürfen nicht umsonst gewesen sein, nicht für ein weiteres Minsker Abkommen, das das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben ist, damit unsere Kinder und Enkel das nicht noch mal durchmachen müssen. Natürlich ermüden die Leute, aber die Opfer verstärken auch ihre Entschlossenheit.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de