Nach Parlamentswahl "Frankreich wird schwieriger zu regieren sein"
Die neuen Mehrheiten im Parlament schwächen Präsident Macron national und international, sagt die Frankreich-Expertin Ronja Kempin. In der Innenpolitik sei das Land nicht auf Kompromisse ausgerichtet und werde damit in Europa unberechenbarer.
tagesschau24: Was bedeutet das Ergebnis der ersten Runde der Wahlen zur Nationalversammlung für die französische Politik?
Ronja Kempin: Es hatte sich schon angedeutet, dass der Rassemblement National seinen Siegeszug fortsetzen würde. Bei den Europawahlen lag Marine Le Pens Partei schon deutlich vor dem Lager des Präsidenten. Jetzt hat sie diesen Wahlerfolg bestätigen können, zumindest im ersten Wahlgang. Und es zeigt sich, dass das Land tief gespalten ist in eine extreme politische Rechte und in eine bürgerliche Linke.
"Nicht auf politische Kompromisse vorbereitet"
tagesschau24: Es könnte nach den Stichwahlen zu einer sogenannten Kohabitation kommen, bei der der Regierungschef einem anderen Lager angehört als der Präsident. Das gab es zwar schon mehrmals in der Geschichte Frankreichs, aber hätte das jetzt mit dem Rassemblement National nicht eine ganz andere Qualität?
Kempin: Definitiv. Es scheint mir sehr sicher, dass Präsident Macron in eine Kohabitation gezwungen wird, weil sein Lager im Moment zu schwach aufgestellt ist. Die Frage ist, ob es zwangsläufig die extreme Rechte von Marine Le Pen ist, die die Regierungsmehrheit stellen wird, oder ob es der Linksfront und dem Präsidentenlager gelingt, das Bündnis des Rassemblement National noch einzufangen.
Frankreich ist als Demokratie eigentlich nicht darauf vorbereitet, politische Kompromisse zu schließen. Das Wahlsystem ist eher darauf angelegt, ganz klare Mehrheitsverhältnisse für den Präsidenten zu schaffen. Und wenn Emmanuel Macron jetzt in eine Konstellation der Kohabitation gezwungen wird, wird Frankreich deutlich schwieriger zu regieren sein. Und es wird international nicht mehr derart verlässlich daherkommen können, wie wir das gewohnt sind.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU und Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie forscht derzeit schwerpunktmäßig auch zur Rolle des Rassemblement National in Frankreich.
Die wahlentscheidenden Themen
tagesschau24: Welche Themen treiben denn die Französinnen und Franzosen um, dass sie jetzt so abgestimmt haben?
Kempin: Ich glaube, das Thema der Kaufkraft ist sehr wichtig gewesen. Es ist ein Thema, auf das der Rassemblement National schon seit langer Zeit setzt. Viele Französinnen und Franzosen beklagen sich darüber, am Ende des Monats nicht mehr über die Runden zu kommen, weil die Preise für Grundnahrungsmittel, aber auch die Preise für Energie, für Treibstoff sehr stark gestiegen sind. Die französische Regierung war nicht in der Lage, Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastung für die Bürgerinnen und Bürger abzufedern.
Das Thema Sicherheit hat immer wieder eine große Bedeutung. Die Frage der Französinnen und Franzosen lautet: Gibt es wieder terroristische Angriffe in unserem Land? Wie können wir auch die muslimische Bevölkerung besser integrieren und entradikalisieren? Und damit eng zusammen hängt das Thema der Migration, das auch an diesem Sonntag wieder eine große Rolle bei der Entscheidungsfindung gespielt hat.
"Politische Mitte ist immer schwächer geworden"
tagesschau24: Wie in vielen europäischen Ländern scheinen sich das linke und das rechte Lager in Frankreich immer stärker und unversöhnlicher voneinander abzugrenzen. Kann man in Frankreich von einer unüberwindbaren gesellschaftlichen Spaltung sprechen?
Kempin: Das ist eine schwierige Frage. Wir sehen, dass es die politische Mitte, der wir diese Überwindung zugetraut haben, nicht mehr gibt. Sie ist immer schwächer geworden, seit Präsident Macron 2017 auch mit dem Versprechen angetreten ist, die Spaltung des Landes in links und rechts zu überwinden. Wir müssen feststellen: Die Spaltung ist deutlich tiefer und gravierender geworden. Und die Mitte der Gesellschaft ist, parteipolitisch gesprochen, immer weiter geschrumpft. Das macht es im Moment so schwierig, hinsichtlich der französischen Demokratie positiv in die Zukunft zu blicken. Leider.
"Neue Regierung wird mit dem Rücken zur Wand stehen"
tagesschau24: Eine wichtige wirtschaftliche Kennzahl ist die Staatsverschuldung. Zum Vergleich: Die Staatsverschuldung beträgt in Deutschland rund 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Frankreich sind es mehr als 110 Prozent. Welche Relevanz hat denn diese hohe französische Staatsverschuldung?
Kempin: Sie ist ein Grund dafür, dass der Staat beispielsweise für die Bevölkerung wenig abfedernde Maßnahmen ergreifen konnte. Präsident Macron wird vorgeworfen, die Staatsverschuldung nicht in den Griff bekommen zu haben, weil er eine sehr unternehmensfreundliche Politik betrieben hat. Er hat dafür gesorgt, dass es in Frankreich sehr viel neue Unternehmensgründungen und auch Unternehmensansiedlungen gab, dass die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Er hat eine sehr angebotsfreundliche Politik betrieben, von denen die Menschen aber noch nicht profitieren.
Eine neue Regierung, die dann ab dem 7. Juli am Ruder sein wird, startet deutlich mit dem Rücken zur Wand. Denn die Märkte reagieren bereits sehr unruhig. Frankreich muss schon höhere Zinsen auf Staatsanleihen zahlen, und die Europäische Kommission hat ein Defizitverfahren gegen das Land eingeleitet. Man geht davon aus, dass jährlich etwa 20 Milliarden eingespart werden müssen, damit das Land 2027 wieder die Maastricht-Kriterien erreicht, also die Staatsverschuldung nicht die drei Prozent übersteigt. Das ist eine schwierige Hürde für die künftigen Machthaber in Frankreich.
"Das macht Frankreich sehr viel unberechenbarer"
tagesschau24: Auf europäischer Ebene sind Deutschland und Frankreich so etwas wie der Motor Europas. Wie stark ist der beeinflusst durch die politischen Geschehnisse in Frankreich?
Kempin: Zwischen Deutschland und Frankreich wird es schwierig werden, insbesondere weil der französische Präsident in seiner Position so geschwächt ist. Im Europäischen Rat ist Präsident Macron gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz vertreten. Dort können Sie Initiativen starten, sich bilateral absprechen. Aber schon auf der Ebene der Fachminister wären es dann seitens Frankreich entweder Vertreter der politischen Linken oder der extremen Rechten, die das Sagen haben. Und die werden wahrscheinlich sehr viel daransetzen, den Präsidenten vorzuführen und immer wieder auch alternative Vorschläge einbringen. Das macht Frankreich sehr viel unberechenbarer, weil der Präsident nicht mehr die Durchsetzungskraft im eigenen Land hat, die er braucht, um auch Partnern gegenüber glaubwürdig auftreten zu können.
Was als Hoffnung bleibt
tagesschau24: Vor der zweiten Runde der Wahlen am kommenden Sonntag haben sich das linke und das Lager von Macron nun verbündet. Wie genau soll das funktionieren, und wie vielversprechend kann diese Taktik sein?
Kempin: Aufgrund der sehr hohen Wahlbeteiligung in der ersten Runde gibt es eine Höchstzahl an Wahlkreisen, in denen sich drei politische Kontrahenten gegenüberstehen, in der Regel der Rassemblement National, die linke Bürgerfront und das Parteienbündnis des Präsidenten. Wenn sich jetzt aus dem Lager des Präsidenten und der linken Volksfront die Kandidaten zusammentun und einen Kandidaten auswählen, der vielversprechend gegen den Rassemblement National im Rennen unterwegs ist, gibt es die Hoffnung, dass der Wahlerfolg des Rassemblement National eingehegt werden kann. In Frankreich wählt man Wahlkreis für Wahlkreis. Und in jedem Wahlkreis wird die bestplatzierte Person im zweiten Wahlgang in die Nationalversammlung einziehen. Indem Regierungslager und linke Bürgerfront jetzt gemeinsame Sache machen, hofft man, den Durchmarsch des Rassemblement National stoppen zu können.
Das Gespräch führte Ralph Baudach, tagesschau24