Angriff auf Einkaufszentrum Fassungslosigkeit in Charkiw
Die Kunden des Einkaufszentrums in Charkiw kamen für Heimwerkerbedarf und Gartenutensilien, nun sind mindestens 14 von ihnen nach einem russischen Angriff tot. Präsident Selenskyj pocht weiter auf zusätzliche Flugabwehrsysteme.
Regungslos liegt der Mann unter einer zerknitterten goldenen Thermofolie, die jemand über ihm ausgebreitet hat. Diese soll eigentlich Verletzte wärmen, jetzt dient sie als provisorisches Leichentuch. Denn der ältere Mann, der am helllichten Samstagnachmittag auf dem großen Parkplatz des brennenden Einkaufszentrums liegt, ist tot.
Zu diesem Zeitpunkt steigt beißender schwarzer Rauch über den Trümmern des riesigen Einkaufszentrums "Epizentr" in Charkiw auf. Auf einer Fläche von mehr als 13.000 Quadratmetern brennen unter anderem Lacke und Farben lichterloh und die Feuerwehrleute machen sich in Staub und Hitze ans Löschen der riesigen zerstörten Halle.
Andrii Kudinow betreibt in der Nähe ein kleines Geschäft und wurde Augenzeuge dieses erneuten russischen Gleitbomben-Angriffs auf Charkiw. Der Nachrichtenagentur Reuters erzählte er, dass Panik ausgebrochen sei. Viele Menschen waren am Samstagnachmittag beim Einkaufen: "Seit ein paar Tagen ist es warm und es ist Gartensaison. Deswegen waren viele Menschen da. Sie saßen auch in den parkenden Autos."
Mindestens 18 Verletzte bei weiterem Angriff
Bei dem russischen Angriff auf das Einkaufszentrum, wo unter anderem Heimwerkerbedarf und Gartenutensilien verkauft werden, starben mindestens 14 Menschen. Mehr als 40 wurden verletzt, 16 werden noch vermisst. Das teilten die regionale Staatsanwaltschaft und die Militärverwaltung Charkiws mit.
Und es gab noch mehr Opfer. Denn am Samstagabend befahl Moskau einen weiteren Raketenangriff auf das Zentrum von Charkiw, bei dem mindestens 18 Menschen verletzt wurden. "Das wird nie aufhören", sagt Wolodymyr. Der grauhaarige bärtige Mann ist wütend und fassungslos. "Die Russen spüren nicht einmal, wie viel Leid sie über das ukrainische Volk bringen. Sie machen sich sogar lustig, wenn sie darüber reden. Ich denke, wir sollten darauf antworten."
Der Einschlag und die folgende heftige Druckwelle beschädigten in Charkiw nicht nur Andriis Kurdinows kleinen Laden, sondern unter anderem einen Supermarkt, eine Post, einen Friseursalon, ein Café und mehrere Wohnhäuser. Türen und Fensterscheiben zerbarsten, Straßen sind voller Schutt und Erde, Autos zerquetscht.
In der Nacht auf Sonntag hatten viele Menschen landesweit keine Ruhe. Denn Russland schoss mehr als 30 Drohnen, zwölf Marschflugkörper und zwei Raketen auf die Ukraine ab.
Selenskyj: "Weiterer Beweis für russischen Wahnsinn"
Die jüngsten Angriffe auf Charkiw seien ein weiterer Beweis des russischen Wahnsinns, so Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. "Man kann es nicht anders ausdrücken: Nur ein Verrückter wie Putin ist fähig, Menschen auf eine so abscheuliche Weise zu töten und zu terrorisieren." Der Präsident sprach den Verletzten sowie Angehörigen und Freunden der Toten sein Mitgefühl aus und versicherte, alle Betroffenen bekämen die Hilfe, die sie brauchen.
Für die Verteidigung des Landes gilt dies jedoch nicht. "Hätten wir zwei 'Patriot'-Flugabwehrsysteme für Charkiw, wäre das ein grundlegender Unterschied", betonte Selenskyj vor kurzem. Am Samstagabend wiederholte er dann erneut seine Forderung nach mehr Flugabwehrsystemen. Diese könnten russische Angriffe abwehren und Menschenleben retten.
Warnung vor weiteren russischen Angriffen im Nordosten
Russland versuche ständig den Krieg auszuweiten, sagte der ukrainische Präsident mit Blick auf die erneute russische Offensive im Raum Charkiw. Weiter im Nordosten bereite Moskau neue Angriffsversuche vor und versammele weitere Truppen nahe der Grenze zur Ukraine, so Selenskyj. Der Präsident nannte keine Namen doch im Nordosten liegt die Region Sumy, die eine rund 400 Kilometer lange Grenze mit Russland hat.
Seit Jahresbeginn beschießt Russland vor allem die Grenzgegend von Sumy intensiv mit Mörsergranaten oder "Grad"-Raketen - nach Angaben der regionalen Militärverwaltung wurden sieben Gemeinden in der vergangenen Nacht beschossen. Vor dem anstehenden Friedenstreffen in der Schweiz Mitte Juni appellierte Selenskyj unter anderem an US-Präsident Joe Biden und Chinas Präsident Xi Jinping, daran teilzunehmen.
Sechs "Epizentr"-Komplexe zerstört
Nach Angaben des ukrainischen Katastrophendienstes konnte der Brand im Charkiwer Einkaufszentrum "Epizentr" nach rund 16 Stunden gelöscht werden. Das Unternehmen, welches das "Epizentr" betreibt, erklärte unterdessen, Russland habe bereits sechs seiner Einkaufszentren vollständig zerschossen - unter anderem in Tschernihiw, Butscha, Cherson und dem inzwischen russisch besetzten Mariupol.