Fortschrittsbericht wird zurückgehalten EU verkneift sich Türkei-Kritik bis zur Wahl

Stand: 29.10.2015 03:41 Uhr

EU-Abgeordnete sind überzeugt: Die EU-Kommission hält ihren überaus kritischen Bericht zur Türkei bis nach der Wahl zurück, um Präsident Erdogan nicht zu verärgern. Denn man sei in der Flüchtlingskrise auf ihn angewiesen.

"Es ist völlig klar, dass dieser Fortschrittsbericht zurückgehalten wird", sagt die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer. Er soll erst nach der Parlamentswahl in der Türkei am kommenden Sonntag veröffentlicht werden. Auch der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff ist sich sicher: "Der Bericht wird eindeutig aus politischen Gründen zurückgehalten. Man will hier niemandem vor der Wahl vors Schienbein treten."

Gemeint ist das Schienbein des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die EU-Kommission, die den Fortschrittsbericht schreibt, äußert sich nicht zu den Vorwürfen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werde den passenden Zeitpunkt bestimmen, um den Bericht zu veröffentlichen, sagte ein Sprecher.

"Bloß keinen unnötigen Ärger mit der Türkei"

"Bloß keinen unnötigen Ärger mit der Türkei" scheint derzeit das Motto der EU-Kommission zu sein. Denn um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, brauche die EU auch den türkischen Präsidenten Erdogan, meint die CDU-Europaabgeordnete Sommer. "Da man etwas von der Türkei in der Flüchtlingsfrage will, tut man natürlich einiges, um den Präsidenten nicht zu verärgern", sagt sie. Verärgern würde Erdogan ein negativer Bericht der EU über sein Land - und das noch vor der Parlamentswahl.

Seitdem die Türkei offizieller Beitrittskandidat zur EU ist, schreibt die Kommission jedes Jahr einen Bericht, in dem steht, wie sich das Land entwickelt hat. In den vergangenen Jahren wurde dieser Fortschrittsbericht spätestens Mitte Oktober veröffentlicht. Doch nach dem Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan in Brüssel Anfang Oktober hieß es plötzlich, der Termin werde verschoben, um die Wahl in der Türkei nicht zu beeinflussen.

"Man hörte dann um drei Ecken: Ja, Erdogan sei der Bericht im Vorfeld zugespielt worden. Und er hätte sich sehr unzufrieden damit gezeigt", sagt die Abgeordnete Sommer. "Ich kann mir das vorstellen, denn der Bericht ist wirklich sehr kritisch." Nach Ansicht der CDU-Abgeordneten ist dieser Fortschrittsbericht eher ein Rückschrittsbericht. Denn der Entwurf besagt, dass in der Türkei noch immer Menschenrechte und Medienfreiheit massiv eingeschränkt werden.

Türkisches Vorgehen widerspricht Europas Grundwerten

Gestern zum Beispiel versuchte die Polizei, regierungskritische Fernsehsender in Istanbul abzuschalten. Aber auch die Unterdrückung der kurdischen Minderheit und die Abhängigkeit der türkischen Gerichte werden kritisiert. Derzeit ermittelt die Justiz zum Beispiel wieder einmal gegen Minderjährige. Den 12 und 13 Jahre alten Jungen wird vorgeworfen, sie hätten ein Erdogan-Wahlplakat zerrissen und den Präsidenten damit beleidigt. All das widerspricht den europäischen Grundwerten.

Und doch müsse man sich entscheiden, sagte Kommissionschef Juncker. "Entweder wir sagen der Türkei, es gibt zwischen den Europäischen Union und der Türkei ungelöste Fragen in Punkto Menschenrechte, in Punkto Pressefreiheit. Das bringt aber im Moment nichts“, so Juncker. Denn die Türkei sei als Transitland ein wichtiger Partner für die EU in der Flüchtlingskrise. Und sie sei bereit, Flüchtlinge im eigenen Land zu halten und neue Menschenmassen Richtung Europa zu bremsen. "Ob es passt oder nicht passt. Ob es gefällt oder nicht gefällt. Wir müssen mit der Türkei zusammenarbeiten", sagt Juncker.
 
Es riecht nach einem Deal: Präsident Erdogan hilft der EU in der Flüchtlingskrise. Die EU veröffentlicht das brisante Papier erst später - nach der Wahl in der Türkei. Das sei unglaubwürdig, meint die CDU-Europaabgeordnete Sommer: "Jetzt kann man von der Kommission halten was man will. Ich bin zutiefst enttäuscht."

Karin Bensch, K. Bensch, ARD Brüssel, 29.10.2015 04:59 Uhr

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 29. Oktober 2015 um 05:45 Uhr im Deutschlandfunk.