Bilanz des Jahres 2016 Die EU - Eine Union der Zweifel
Es war ein schwieriges Jahr für die EU: Die Folgen der Flüchtlingskrise, das Brexit-Votum. Die Probleme kosten Kraft und schüren die Sorge, dass die EU immer brüchiger wird. Fest steht: Die Aufgabenliste für 2017 ist schon ziemlich lang.
Europa ist im Weihnachtsfieber. Auch in Deutschland klingeln die Kassen - im Schnitt gibt jeder Bürger 300 Euro für das große Fest aus. Doch dieses Mal hat Weihnachten einen Missklang. Nie war die Lage in der Europäischen Union so angespannt wie heute.
"Die Bilanz der EU ist eine mulmige", sagt Ulrike Guerot von der Europa-Universität im österreichischen Krems. "Wir haben das Gefühl, es passiert etwas, was man noch nicht richtig greifen kann. Es ist eine große Ungewissheit: Was kommt mit Blick auf Europa auf uns zu?"
Beim Thema Frieden verloren
Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen bestätigt die Stimmung: "Meine Bilanz der EU in 2016 fällt leider negativ aus. Nächstes Jahr wird die EU 60 Jahre alt. Und wir sind in der schlechtesten Verfassung, weil wir so viel Egoismus und so viel Nationalismus in Europa haben wie nie zuvor. Wir sind an einem ernsten Punkt, wo es zum ersten Mal richtig schief gehen kann."
Etwa bei der Frage von Krieg und Frieden. Da hat die EU 2016 nur wenig erreicht - etwa in Syrien. Die EU agierte komplett ins Leere. Unzählige Sitzungen, Außenministertreffen, Appelle. Doch es wird weiter gekämpft, geflüchtet und gestorben. "Bei Syrien hat Europa gesagt: Da machen wir nichts, dann passiert da schon nichts, was uns betrifft", sagt Alexander Graf Lambsdorff, EU-Abgeordneter für die Liberalen. Doch nun "sehen wir die schrecklichen Bilder aus Aleppo. Auch Nicht-Handeln hat einen Preis".
Sicherheit bleibt eine Baustelle
Auch in der Flüchtlingsfrage kommt die EU aus Sicht des ehemaligen EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen auf keinen gemeinsamen Nenner: "Die meisten EU-Länder denken: Warum sollen wir, denen es ohnehin schlecht genug geht, das auch noch auf uns nehmen?" So gebe es keine Chance auf eine EU-weite Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten. "Das war eine Illusion von Anfang an", sagt Verheugen weiter, "sie kann und sie wird nicht funktionieren".
Auch beim Versprechen, Europas Grenzen zu schützen, verlieren die Bürger das Vertrauen. Und das spüren ihre Vertreter im EU-Parlament. "Bei der Sicherheit tun die nationalen Regierungen, die dafür zuständig sind so, als ob es Fortschritte gäbe", kritisiert der EU-Abgeordnete Lambsdorff. "Frontex, Europol, Außen- und Sicherheitspolitik - aber da passiert viel zu wenig. Das ist eine große Baustelle für das nächste Jahr."
Schwächelnder Wohlstand, wackliger Euro
Die EU als Wohlstandsinsel - daran glauben immer weniger. In Italien, dem drittgrößten EU-Land, ist fast jeder dritte junge Mensch arbeitslos. "Wie sollen wir denen Europa schmackhaft machen", fragt CDU-Politiker Röttgen. "Wir haben Generationen von Jugendlichen auch in anderen EU-Staaten, die in unseren Gesellschaften scheinbar nicht gebraucht werden. Das ist am Ende auch ein Problem für uns Deutsche."
Gleichzeitig wächst die Ungleichheit bei den Einkommen, obwohl Europa die Unterschiede ausgleichen wollte. Länder wie Irland, Großbritannien oder Luxemburg locken Großverdiener mit großzügigen Steuergeschenken. Der iPhone-Multi Apple zahlt weniger als ein Prozent Steuern im irischen Dublin auf seine gesamten Einkünfte aus der gesamten EU. "Es fehlt an politischem Willen", resümiert Verheugen, "sowohl in Brüssel, aber vor allem in den Mitgliedsländern selber. Wir haben doch gesehen, dass eine ganze Reihe von Steuerbehörden in den Mitgliedsstaaten alle möglichen Geschäfte mit den Steuervermeidern und -hinterziehen gemacht haben."
Und auch der Euro verlor 2016 weiter an Glanz. "Ich bin in großer Sorge, dass jetzt das Endspiel um den Euro beginnt. Europa bricht die Regeln, macht zu hohe Schulden. Die Probleme werden mit niedrigen Zinsen von Herrn Draghi (Chef der Europäischen Zentralbank, Anm. der Red.) zugeschüttet. Das ist kein Erfolgsmodell", kritisiert der FDP-Politiker Christian Lindner.
"Es ist nicht die Zeit dafür, Recht zu haben"
Die Unzufriedenheit ist groß, auch unter Politikern. Die Einsicht wächst, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss. Als größtes Land der EU könne es nicht so weitermachen wie bisher, meint Röttgen: "Uns geht es am besten in Europa und darum müssen wir kompromissbereiter sein. Es ist nicht die Zeit dafür, Recht zu haben - dafür ist die Lage zu ernst. Wir müssen als Deutsche dafür sorgen, dass Europa wieder funktioniert, weil das unser überragendes Interesse ist."
Noch weiter geht die Wissenschaftlerin Guerot: "Wir dürfen aus Nationalität keinen Wettbewerbsvorteil mehr machen. EU-Bürger sind immer noch nicht gleich vor dem Recht, nicht gleich bei Steuern und eben auch nicht gleich beim Zugang zu sozialen Rechten." Es sei in dieser Krise höchste Zeit, Europas Bürger ein neues Ziel zu geben, für das es sich lohne, zu kämpfen. Das sei der beste Schutz vor Populismus.