EU und Türkei Zu zweit allein
Die Bundesregierung steht mit ihrer Forderung nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fast allein da. Nur Österreich ist offen dafür. Andere EU-Staaten sprachen sich beim Außenministertreffen in Tallinn dagegen aus.
In der EU gibt es keine Mehrheit für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Unter anderem Finnland und Litauen sprachen sich beim EU-Außenministertreffen in Tallinn dagegen aus.
Der estnische Außenminister Sven Mikser sagte als Vertreter der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft, er erwarte in diesem Jahr keine Entscheidung mehr. Erst Anfang 2018 solle es eine Einschätzung der EU-Kommission geben, "ob und zu welchem Grad die Türkei" weiter die Kriterien für die Beitrittsverhandlungen erfülle. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn kündigte den entsprechenden Bericht "spätestens" für das Frühjahr 2018 an.
Verstärkt wurde die Debatte dazu durch die Neupositionierung der Bundesregierung. Kanzlerin Angela Merkel hatte am Sonntag im Wahlkampf-Duell mit ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz angekündigt, beim nächsten EU-Gipfeltreffen darüber beraten zu wollen. Schulz hatte sich ebenfalls für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen.
Außenminister Sigmar Gabriel rechtfertigte in Tallinn diese Position: "In dem Moment, wo die Türkei 680 deutsche Unternehmen verdächtigt, Terroristen zu unterstützen, deutsche Staatsbürger in Haft genommen werden, gibt es irgendwann einen Punkt, wo wir sagen müssen, das ist eine Politik, mit der wir nicht einfach so weitermachen können, als wäre nichts gewesen", sagte der SPD-Politiker. "Nicht wir entfernen uns von der Türkei, sondern die türkische Regierung entfernt die Türkei von Europa."
Verhandlungen "de facto" schon gestoppt
"Wir wissen, dass es Probleme mit Menschenrechten in der Türkei gibt", sagte Finnlands Außenminister Timo Soini. "Aber ich bin nicht dafür, die Verhandlungen zu stoppen." Dialog mit Ankara sei der beste Weg, um mit Problemen umzugehen.
"Wir sollten den Prozess fortsetzen - es ist nicht einfach, aber wir müssen zu Vereinbarungen stehen", sagte Litauens Außenminister Linas Linkevicius.
Belgiens Minister Didier Reynders sieht derzeit keinen Handlungsbedarf. "De facto" seien die Verhandlungen schon "gestoppt" und "eingefroren". "Es kommt nicht in Frage, irgendetwas anderes ins Auge zu fassen."
Kurz begrüßt "Meinungsschwenk"
Allein Österreich sprach sich bislang offen für einen Abbruch der Verhandlungen mit der Türkei aus.
In Tallinn sagte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, er sei froh, "dass es jetzt auch bei Martin Schulz und Sigmar Gabriel und anderen" einen "Meinungsschwenk" gebe.
Als Argument gegen einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gelten die möglichen Auswirkungen auf das EU-Türkei-Abkommen, das helfen soll, die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, zu reduzieren.
Zudem wird das Risiko gesehen, dass ein Verhandlungsabbruch die Gespräche über die Wiedervereinigung der Mittelmeerinsel Zypern gefährdet. Sie ist bis heute in einen EU-Teil und in einen international nicht anerkannten türkischen Teil gespalten. Gabriel hatte früher auch wiederholt davor gewarnt, dass sich die Türkei durch einen Verhandlungsabbruch weiter Russland annähern könnte.
Als Alternative für den Abbruch der Gespräche können sich Österreich und Deutschland auch für eine Aussetzung einsetzen. Dafür ist keine einstimmige Entscheidung nötig, es würde genügen, wenn sich 16 der 28 Länder anschließen.
Pläne für Verteidigungsunion kommen voran
Voran kommen die Pläne für eine europäische Verteidigungsunion. Nach Angaben der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini wird bis Ende des Jahres das neue System für eine ständige strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) in der Sicherheitspolitik starten können. Eine sehr große Mehrheit der Mitgliedstaaten, wenn nicht alle, wollten sich beteiligen, sagte Mogherini nach einem Treffen der EU-Verteidigungsminister in Tallinn.
"Wir haben Quantensprünge nach vorne gemacht in diesem einen Jahr." Nach "ganz viel Skepsis" sei nun der Wille zu spüren, sich europäisch besser aufzustellen. "Das ist ein ganz anderer Geist", sagte sie.
Über Pesco können sich demnächst interessierte Staaten freiwillig verpflichten, in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) voranzuschreiten und ausgesuchte Projekte gemeinsam umzusetzen. Das könnten zum Beispiel die Weiterentwicklung der bislang nie eingesetzten EU-Kampftruppe (Battlegroup) oder der Aufbau eines europäischen Sanitätskommandos sein.
Als ein Grund für die schnellen Fortschritte beim Aufbau der Verteidigungsunion gilt die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Der Republikaner fordert von den Europäern ein deutlich stärkeres Engagement in diesem Bereich. So wird in der EU die Notwendigkeit gesehen, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabhängiger von den USA zu werden.