Europäische Union Das sind die größten Baustellen der EU
Brexit, Flüchtlinge, Terror, Arbeitslosigkeit - es gibt viele Dinge, die die Einigkeit in der Europäischen Union derzeit auf die Probe stellen. Was sind die größten Baustellen? tagesschau.de gibt einen Überblick.
Flüchtlingskrise
Der Umgang mit den Hunderttausenden Flüchtlingen reibt die EU auf. Die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in weniger betroffene EU-Länder verläuft nach wie vor schleppend. Vor allem die vier Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei gelten als Bremser eines einheitlichen europäischen Vorgehens in der Flüchtlingskrise. Sie lehnen die Pläne der EU-Kommission für eine Aufteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Mitgliedsländer ab und verlangen stattdessen einen schärferen Grenzschutz. Ungarn hält am 2. Oktober ein Referendum ab, mit dem die Regierung deutlich machen will, dass auch die Bevölkerung eine Ansiedelung von Flüchtlingen ablehnt.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fand dazu drastische Worte. Wenn es nach ihm geht, dann sollte Ungarn aus der EU ausgeschlossen werden, weil das Land "Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz verletzt". Das sagte er der "Welt".
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker appellierte in seiner Rede zur "Lage der Union" an den amtierenden slowakischen EU-Vorsitz, bei dem Gipfeltreffen in Bratislava zu vermitteln zwischen jenen Staaten, die Flüchtlinge aufnehmen und jenen, die zögern. Außerdem mahnte er den raschen Aufbau eines gemeinsamen Grenz- und Küstenschutzes an. Konkret sollen bereits ab Oktober 200 zusätzliche Beamte aus Europa Bulgarien bei der Sicherung der Grenze zur Türkei helfen.
Wirtschafts- und Schuldenkrise
Die Folgen der globalen Wirtschaftskrise von 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Auf der einen Seite stehen prosperierende Länder wie Deutschland, das nach der Berechnung der europäischen Statistikbehörde Eurostat zuletzt auf eine Arbeitslosigkeit von 4,2 Prozent kam - ein Rekordtief. Auf der anderen Seite stehen vor allem die südeuropäischen Länder: In Griechenland ist fast jeder Vierte ohne Job. Auch Spanien und Portugal leiden noch immer unter einer enorm hohen Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft in Italien schrumpft seit Jahren, gleichzeitig ist die Staatsverschuldung gewachsen. Auch die in diesem Jahr wieder aufgeflammte Bankenkrise bremst das Wachstum. Ifo-Chef Clemens Fuest warnte im "Handelsblatt" bereits davor, dass Italien derzeit das größte ökonomische Risiko in der Währungsunion darstelle.
Das führt zu einer sehr unterschiedlichen Interessenlage innerhalb der EU: Die südeuropäischen Länder sind an einer Lockerung der Maastricht-Kriterien, etwa der Defizitgrenzen, interessiert. Zudem warnte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras bereits die Eurozonen-Partner, dass Wachstum ohne Schuldenerleichterung für sein Land kaum möglich sei. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Die Euro-Finanzminister drängen das hoch verschuldete Griechenland für die Auszahlung neuer Hilfskredite zu raschen Reformen.
Länder wie Deutschland hingegen fordern strikte Sparsamkeit. Mit dem Ausstieg der Briten aus der EU hat die Bundesregierung einen traditionellen Partner beim EU-internen Kampf um mehr Wettbewerbsfähigkeit, einen liberaleren Außenhandel und stabile Haushalte verloren. Umso mehr versucht Kanzlerin Angela Merkel nun, nord- und nordosteuropäische Staaten auf ihre Seite zu ziehen. Anfang September forderte sie diese Regierungen ausdrücklich auf, in der EU-Debatte lauter als bisher mitzudiskutieren. Denn diese Länder teilen die deutsche Wirtschafts- und Haushaltsphilosophie am ehesten. So will sie auch vermeiden, dass wie in der Euro-Krise der Eindruck entsteht, nur Deutschland wolle eine strengere Haushaltsdiszplin.
Trotz der Differenzen etwa in der Flüchtlingspolitik entsteht nun eine neue Teilallianz zwischen den Osteuropäern und Deutschland. "Wir möchten eine rigorose Haushaltsdisziplin aufrechterhalten, die auf Wachstum basiert", sagt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban.
Um die Konjunktur zu stärken und Jobs zu schaffen, will EU-Kommissionspräsident Juncker sein 2014 gestartetes Investitionsprogramm verdoppeln: Statt 315 Milliarden Euro binnen drei Jahren sollen mit dem sogenannten Juncker-Plan nun in der doppelten Zeit 630 Milliarden erreicht werden. Die Finanzierung der Ausweitung ist allerdings noch nicht geklärt. Ursprünglich war ein Grundstock von 21 Milliarden Euro öffentlicher Gelder im "Europäischen Fonds für strategische Investitionen" (EFSI) vorgesehen, mit dem private Investitionen in vielfacher Höhe ermöglicht werden sollen.
Terrorkrise
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland offenbarten Lücken bei Absprachen und Informationsaustausch zwischen den EU-Staaten. Noch immer hapert es an der Zusammenarbeit der nationalen Geheimdienste. Beim Thema Sicherheit zeigt sich jedoch die größte Konsensfähigkeit. Die meisten Länder sind sich inzwischen einig, dass die EU ihre Zusammenarbeit in der inneren und äußeren Sicherheit intensivieren sollte. Griechenland akzeptiert mittlerweile, dass eine Grenzschutzagentur Aufgaben übernimmt, an denen der Staat allein scheiterte. Auch umstrittene Projekte wie ein Ein- und Ausreiseregister für den Schengen-Raum sollen bis Jahresende stehen. So sollen alle Bewegungen lückenlos erfasst und Daten mit Terrordatenbanken abgeglichen werden.
Eine Stärkung der europäischen Verteidigung bekommt durch einen möglichen Brexit eine neue Chance. Bisher war sie von den auf die Nato setzenden Briten blockiert worden. Deutschland und Frankreich wollen hier nun ebenso einen neuen Anlauf nehmen wie die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Diskutiert wird unter anderem, bei der Rüstungsbeschaffung stärker zusammenzuarbeiten und in Brüssel ein gemeinsames Hauptquartier für Auslandseinsätze einzurichten.
Eine von Tschechien und Ungarn geforderte Europäische Armee hat dagegen kaum eine Chance. Die werde es "in nächster Zeit" nicht geben, sagt Mogherini. "In 50, 60, 100 Jahren, wer weiß?"
Frankreich und Deutschland formulierten bereits Ende August das Ziel, enger im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuarbeiten und die Sicherheitskooperation in der EU zu verbessern. So wollen sie besser gegen Terroristen ermitteln können, wenn diese verschlüsselt kommunzieren. Dabei wollen sie nicht die Verschlüsselung einschränken, sondern erreichen, dass alle Anbieter von Kommunikationsdiensten denselben Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden unterliegen.
Schwächen könnte die Terroraufklärung in Europa jedoch der Brexit. Wenn die Briten aus der europäischen Polizeibehörde Europol ausscheiden, droht eine Sicherheitslücke. Laut Europol-Chef Rob Wainwright gehen ein Drittel aller Ermittlungsfälle auf Hinweise der britischen Behörden zurück. Das sagte er der "Welt". Vor allem im Kampf gegen Terrorismus gilt Großbritannien als führend.
Brexitkrise
"Die Europäische Union ist derzeit nicht in Topform", sagte Juncker bei seiner Rede zur "Lage der Union". Ein Ausstieg der Briten würde die Existenzkrise der EU noch weiter verschärfen. Mit dem Brexit würde die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, ihren zweitgrößten Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat verlieren.
Die Briten hatten sich am 23. Juni mehrheitlich dafür entschieden, der EU den Rücken zu kehren. Doch erst wenn die Regierung in London ihr Austrittsgesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge übermittelt hat, sollen die Verhandlungen laut der Brüsseler Behörde beginnen. Die neue britische Regierung hatte angekündigt, nicht vor Ende des Jahres den Antrag zu stellen.
Mit dem Referendum der Briten scheint vor allem auch ein Damm für andere EU-Kritiker gebrochen zu sein. So fordern Rechtspopulisten in den Niederlanden und in Frankreich ebenfalls einen Austritt ihres Landes aus der Union.
EU-Kommissionspräsident Juncker fürchtet dennoch nicht, dass die EU nach einem Ausscheiden Großbritanniens zerfallen könnte. Er appellierte er an die 27 verbleibenden Mitgliedstaaten, sich zusammenzuraufen. In den nächsten zwölf Monaten müsse die EU liefern. Er schlug ein Maßnahmenpaket vor, das etwa mehr Investitionen, einen besseren Schutz der Außengrenzen und eine engere Zusammenarbeit bei der Verteidigung enthält. Es müsse ein gemeinsames Bewusstsein geben, gegen Populisten anzukämpfen, die die EU zerstören wollten.