Krise in der Türkei Ausnahmezustand - und was heißt das jetzt?
Der türkische Präsident Erdogan hat nach dem gescheiterten Militärputsch für drei Monate den Ausnahmezustand verhängt. Ist das ein üblicher Vorgang? Welche Ziele verfolgt er damit? tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist ein Ausnahmezustand?
Ein Ausnahmezustand wird in einer außerordentlichen Krisensituation verhängt. Dabei werden den Staatsorganen besondere Vollmachten übertragen, um drohende oder bereits eingetretene Gefahren oder die Existenzgefährdung des Staates abzuwenden. Die normale Rechtsordnung wird zumindest teilweise ausgesetzt.
Wann verhängt ein Land den Ausnahmezustand?
Gründe können Naturkatastrophen, Kriegserklärungen, Staatsstreiche oder auch terroristische Angriffe sein, wie das zuletzt bei Frankreich der Fall war. Wann, wie lange und in welchem Umfang der Ausnahmezustand verhängt wird, ist von Land zu Land unterschiedlich und in den jeweiligen Verfassungen geregelt.
Ist es also ein üblicher Vorgang, dass ein Land nach einem gescheiterten Militärputsch den Ausnahmezustand verhängt?
"Ein Staatsstreich ist immer ein Grund, um den Ausnahmezustand auszurufen", sagt der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis im Gespräch mit tagesschau.de. Auch Reinhard Baumgarten, Leiter des ARD-Studios Istanbul, hält das Vorgehen der türkischen Regierung für nachvollziehbar. "Erdogan hat in der Vergangenheit viele Dinge gemacht, die zweifelhaft waren. Wir sind deshalb aus guten Gründen übersensibel geworden. Es herrscht eine Art Urmisstrauen. Aber in diesem Fall halte ich die Verhängung des Ausnahmezustands für nachvollziehbar, wenn dabei die Regeln des Rechtsstaates eingehalten werden. Eine Militärjunta wäre sehr schädlich für das Land."
Was bedeutet der Ausnahmezustand in der Türkei?
Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt (außer bei rechtmäßigen Kriegshandlungen) das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung: Niemand ist schuldig, bevor ein Gericht ihn nicht verurteilt hat.
Das Kabinett kann den Ausnahmezustand im ganzen Land oder in Teilen davon für maximal sechs Monate verhängen.
* Ausgangssperren
* Verbot des Fahrzeugverkehrs zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Gegenden
* Verbot von Versammlungen und Demonstrationen - sowohl unter freiem Himmel als auch in geschlossenen Räumen.
* Durchsuchung von Personen, Fahrzeugen oder Anwesen durch Sicherheitskräfte; Beschlagnahme von Beweismitteln
* Abriegelung oder Evakuierung bestimmter Gegenden
* Kontrolle des Verkehrs zu Land, See und Luft
* Verbot von Druckerzeugnissen wie Zeitungen, Magazine oder Bücher
* Kontrolle, Einschränkung oder Verbot aller Arten von Rundfunkausstrahlung und der Verbreitung von Texten, Bildern, Filmen oder Tönen
Kann Erdogan nun am Parlament vorbeiregieren?
Unter dem Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren. Seine Erlasse haben nun Gesetzeskraft und treten mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Zwar müssen sie noch am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden. Angesichts der AKP-Mehrheit in der Nationalversammlung dürfte aber alles abgenickt werden. So gesehen hätte Erdogan es gar nicht nötig, am Parlament vorbeizuregieren.
Warum hat Erdogan den Ausnahmezustand verhängt?
Laut Erdogan ist der Ausnahmezustand notwendig, um rasch "alle Elemente entfernen zu können", die in den Putschversuch verstrickt sind. Für den macht Erdogan das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Nun hat er eine verfassungsrechtliche Grundlage, um hart gegen seine Gegner vorzugehen. "Erdogan legt sehr großen Wert darauf, dass sein Handeln als demokratisch legitimiert wahrgenommen wird", sagt Reinhard Baumgarten. "Jetzt kann er sich direkt in viele Bereiche einmischen und darauf pochen, es stünde im Einklang mit der Verfassung."
Welche Ziele verfolgt Erdogan mit dem Verhängen des Ausnahmezustands?
Nach Einschätzung von Baumgarten ist der Ausnahmezustand für Erdogan eine Art Probelauf für ein Präsidialsystem. "Wenn er damit erfolgreich ist, könnte er das Volk in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abstimmen lassen und sich mit der Einführung eines Präsidialsystems dauerhaft die Macht sichern." Und das sozusagen demokratisch legitimert.
Was bedeutet der Ausnahmezustand für die Wirtschaft?
Die Wirtschaft in der Türkei schwächelt schon länger. Seit Monaten steckt das Land in einer politischen Krise und wird immer wieder von Terroranschlägen erschüttert. Vor dem Putschversuch waren die meisten Wirtschaftswissenschaftler von einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent in diesem Jahr ausgegangen.
Die langfristigen Folgen des Putschversuchs sind jetzt von den politischen Konsequenzen abhängig. Anleger trennten sich bereits nach der Verhängung des Ausnahmezustands von türkischen Aktien. Der Leitindex der Börse Istanbul fiel zwischenzeitlich um bis zu 3,8 Prozent. Auch die türkische Lira geriet unter Druck.
Klar ist, dass Investoren nach den jüngsten Ereignisse in der Türkei eher vorsichtig sind. Schon vor dem Ausnahmezustand stufte die Ratingagentur Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit der Türkei, die bereits im Ramschbereich rangierte, noch einmal nach unten.
Was bedeutet der Ausnahmezustand für Urlauber?
Nach der Verhängung des Ausnahmezustands in der Türkei hat das Auswärtige Amt Reisenden dringend empfohlen, immer ein gültiges Ausweisdokument mit sich zu führen. "Ausgangssperren können nun überall kurzfristig verhängt und allgemeine Personenkontrollen jederzeit durchgeführt werden", heißt es in einem aktuellen Reisehinweis. Das Ministerium riet weiter "zu äußerster Vorsicht", insbesondere bei Menschenansammlungen auf öffentlichen Plätzen in Ankara und Istanbul.