Palästinenser-Hilfswerk UNRWA "Jetzt sind wir am Rande des Kollaps"
Das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge ist eine der letzten Versorgungsadern für die Menschen in Gaza. Doch seine Hilfsgüter erreichen auch die Terrororganisation Hamas - nun steht die Finanzierung des Hilfsprogramms auf dem Spiel.
Der Chef des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA schlägt Alarm. Philippe Lazzarinis Appelle spiegeln die Verzweiflung von rund zweieinhalb Millionen eingeriegelter Menschen wider. "Während ich mit Ihnen spreche, geht dem Gazastreifen das Wasser aus", sagt er. "Es gibt keinen Strom. Gaza ist im Würgegriff und es scheint, dass die Welt ihre Menschlichkeit verloren hat."
Seit Israel auf die brutalen Terroranschläge der Hamas mit Luftangriffen auf das Gebiet reagiert hat, sind eine Million Palästinenser aus dem Norden Gazas in den südlichen Landesteil geflohen. Mindestens 400.000 Menschen suchen Schutz in den Schulen und Krankenhäusern des UNRWA. Das Hilfswerk ist eine ihrer letzten Versorgungsadern. Doch auch dem UNRWA gehe die Luft aus, warnt der Schweizer Lazzarini. "Das UNRWA hat den größten Fußabdruck der Vereinten Nationen im Gazastreifen - jetzt sind wir am Rande des Kollaps."
Bereitschaft einiger Geldgeber wackelt
Das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge hatte schon vor Kriegsbeginn über eine Millionen Bewohner im Gazastreifen mit Nahrungsmitteln versorgt. Insgesamt betreut es sechs Millionen palästinensische Flüchtlinge von Jordanien über Syrien bis zum Libanon. Nun steht es vor der tiefsten Existenzkrise, seit es 1949 von der UN-Generalversammlung ins Leben gerufen wurde.
Während im Gazastreifen der Nachschub an Hilfsgütern fehlt, wackelt die Bereitschaft der skeptischen Geldgeber. Denn tatsächlich erreiche die Hilfe für Zivilisten im Gazastreifen auch die radikalislamische Hamas, sagt auch Terrorismusexperte Matthew Levitt vom Thinktank "Washington Institute for Near East Policy". Das Problem sei es, einen Ort in Gang zu halten, der von militanten und terroristischen Organisationen gemanagt wird.
Hamas missbraucht UNRWA-Einrichtungen
Fast die Hälfte des gesamten Haushalts des UNRWA fließt in die Region, die die Hamas seit 2007 kontrolliert. Neben humanitärer Hilfe sichert dieses Geld unter anderem die Schulbildung für mehr als eine halbe Million Mädchen und Jungen. Das UNRWA stärkt die schwache Wirtschaft im Gazastreifen. Die Schulen und Krankenhäuser unter UN-Flagge sichern Tausenden jungen Menschen ihren Job.
Doch das Hilfswerk hat auch mehrfach verurteilt, dass die Hamas diese Einrichtungen missbraucht, sagt Levitt. "Sie lagern ihre Raketen in den Schulen - nicht einmal, nicht zweimal. Sie machen das einfach. Genauso wie sie Schulbücher manipulieren. Die dann Hassformeln enthalten - wir gegen sie". Das seien Inhalte, die Israelis dämonisierten. "Das ist nicht einfach für das UNRWA."
Budget von rund eineinhalb Milliarden Euro
Das sei nur ein Beispiel dafür, wie die Hamas als Regierung versagt habe und militant und extremistisch sei, anstatt sich um die Bedürfnisse der Palästinenser zu kümmern. Doch es bringt das Hilfswerk immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. Etwa, wenn Anschläge auf Israelis in diesen Schulbüchern als "Grillpartys" gefeiert werden. Oder Lehrkräfte des UNRWA im Internet den Terror glorifizieren. Auch die Menschenrechtsorganisation UN Watch hat das moniert.
Experte Levitt ist nicht überrascht: "Hamas nimmt Steuern ein und überwacht jegliche Geschäftsbewegung und auch humanitäres Business im Gazastreifen. Die lassen sich über alles informieren." Bekannt sei, dass sie Tunnel unter UNRWA-Einrichtungen graben und dass sie diese Einrichtungen manchmal nutzen, um ihre Waffen dort zu lagern. "Und ich glaube nicht, dass UNRWA was dagegen sagen kann."
Das Hilfswerk mit 30.000 Mitarbeitenden hat ein jährliches Budget von umgerechnet rund eineinhalb Milliarden Euro. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Geber und hat 2022 insgesamt rund 200 Millionen Euro beigetragen. Schon vor der neuen Eskalation des Konflikts gab es Finanzierungslücken. So fuhr die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zwischenzeitig ihre Millionenhilfe für das UNRWA zurück.
UN-Beobachter: Verpflichtung, weiter zu helfen
Das sei auch geschehen, um politischen Druck auszuüben, sagt UN-Beobachter Richard Gowan vom Thinktank "Crisis Group". "Das ist ein weiterer Grund für die Spannungen zwischen Palästinensern und Israelis. Aber auch Länder wie China könnten weit mehr für UNRWA zahlen, wenn sie das wollten." Bei aller berechtigter Kritik, sagt Gowan: Es gebe zu dem Hilfswerk keine Alternative.
"Es liegt zwar auf der Hand, dass die Hamas einige Einrichtungen ausnutzt. Und die UN sollten sich dagegen auch jedes Mal wehren. Aber wir müssen realistisch sein. Solche großen Einrichtungen können immer leicht irgendwo ausgenutzt werden." Das UNRWA sei aber für weit mehr palästinensische Zivilisten als solche Terroristen das einzige soziale und wirtschaftliche Sicherheitsnetz, erklärt UN-Beobachter Richard Gowan.
Schließlich schickten westliche Länder auch Hilfe nach Afghanistan, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, obwohl sie wüssten, dass dort die Taliban regierten. "Ich denke, dass es die Verpflichtung gibt, den Palästinensern weiter zu helfen - auch wenn sie von der Hamas regiert werden." Gowan warnt: Die Alternative wäre ein kompletter humanitärer Zusammenbruch. Ohne die Schulen und Arbeitsplätze, die mithilfe des UNRWA geschaffen werden, würden die jungen Menschen in der Region erst recht in den Extremismus getrieben.
13.000 UNRWA-Mitarbeiter harren in Gaza aus
Experten sind sich auch einig: Sollte der aktuelle Konflikt irgendwann wieder abflauen, dann werde der Bedarf nach humanitärer Hilfe im Gazastreifen besonders groß sein. Das UN-Hilfswerk werde noch wichtiger als es bereits sei. Doch erst einmal müssten die rund 13.000 UNRWA-Mitarbeiter gestärkt werden, die unter Beschuss im abgeriegelten Gazastreifen ausharren, sagt die Sprecherin des Hilfswerks, Juillette Touma.
Die meisten dieser Mitarbeiter seien selbst palästinensische Flüchtlinge. Mindestens 14 von ihnen haben bereits ihr Leben verloren: Lehrkräfte, Fahrer, Ingenieure - manche starben bei Angriffen zusammen mit ihren ganzen Familien. Andere wollten nur noch weg, sagt Touma: "Sie haben panische Angst. Sie sind müde. Und sie flehen uns an: Holt uns aus dieser Hölle!"