Angriff auf Muratow "Nimm das für unsere Jungs"
Der Angriff geschah in einem Schlafabteil: Der russische Friedensnobelpreisträger Muratow ist Ziel einer Farbattacke geworden, angeblich von ehemaligen Soldaten. Doch Angriffe auf russische Regierungskritiker hat es immer wieder gegeben.
Auf einem ersten Foto ist zu sehen, dass Dmitrij Muratow sich bereits für die nächtliche Zugfahrt im Schlafabteil eingerichtet hatte. Auf dem Tisch stehen Getränke, etwas zu Essen, sein Laptop - alles beschmiert mit blutroter Farbe. Auch die weiße Bettwäsche, die Vorhänge und Wände.
Das zweite Foto zeigt den Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der kremlkritischen "Nowaja Gazeta" selbst, wie er - bereits im Schlafanzug - sich in einem Spiegel fotografiert. Der komplette Kopf, sein Gesicht, die Arme, die Brust voller Farbe, die sich ganz offensichtlich vorerst nicht abwaschen lässt.
Das Schlafabteil von Dmitri Muratow, aufgenommen nach dem Farbangriff.
Angriff kurz vor Abfahrt
Ein Unbekannter habe Dmitrij Muratow kurz vor Abfahrt des Nachtzuges aus Moskau mit einem Gemisch aus Ölfarbe und Aceton übergossen. Dabei soll er gerufen haben: "Muratow, nimm das für unsere Jungs", schreibt die Redaktion der "Nowaja Gazeta" auf Twitter.
Noch am Abend kommentiert der Politologe Wladimir Pastuchow den Vorfall: "Es laufen ja nicht einfach so Leute mit Kanistern voll roter Farbe durch Zugwaggons. Das heißt, sie müssen gewusst haben, dass Muratow mit diesem Zug fährt. Das ist der Schlüsselgedanke - es geht um Überwachung und den Zugang zu Informationen. Das war organisiert und vorbereitet."
Deutliche Kritik an der Regierung
Muratow hatte sich deutlich gegen den Krieg in der Ukraine gestellt, der in Russland nur als "Militärische Spezialoperation" bezeichnet werden darf. Seine Zeitung, die "Nowaja Gazeta" umschiffte die neuen Zensurgesetze - hat aber letztlich ihre Arbeit in Russland auf Druck der Behörden vorerst eingestellt.
Politologe Postuchow ist sich sicher: Bei dem Angriff auf Muratow handele sich um ein Signal. In einer Talk-Sendung mit Alexej Wenediktow, dem Chefredakteurs des inzwischen gesperrten Radiosenders Echo Moskwy, sagt er:
Und das Signal ist eindeutig: In der Hauptstadt dulden sie dich nicht - geh!
Solidarität mit Muratow
"Ich drücke meine Solidarität mit Dmitrij aus", erklärte der Gastgeber der Sendung, Alexej Wenediktow. Er selbst hatte erst vor wenigen Wochen ein Bild gepostet von seiner Wohnungstür. Davor ein blutender Schweinekopf mit blonder Perücke. Auf der Tür selbst, ein Aufkleber mit dem ukrainischen Nationalsymbol und dem Wort "Judensau" - auf Deutsch.
Ohne den Fall neu zu erwähnen, erklärte er mit Blick auf die Attacke auf Muratow: "Sie müssen verstehen, dass dies aus meiner Sicht mit der Duldung, um nicht zu sagen mit der Anstiftung durch bestimmte Machtstrukturen, geschieht."
Alexej Wenediktow wurde Ziel von antijüdischer und antiukrainischer Hetze.
Medien melden Festnahme
Am Mittag meldeten russische Medien und Agenturen, ein Mann sei festgenommen worden, nach einem zweiten werde gefahndet. Laut den Berichten handele es sich um ehemalige Soldaten, die nicht einverstanden gewesen seien mit Muratows Kritik an Russlands Vorgehen in der Ukraine.
Nicht der erste Angriff auf Kritiker
Derartige Angriffe auf dem Kreml unbequeme Personen und Institutionen hatte es in den vergangenen Jahren in Russland immer wieder gegeben. Nur selten wurden die Täter zur Verantwortung gezogen.
Ob die Angreifer einen konkreten Auftrag ausführen oder ob sie, ermutigt vom allgemeinen Klima, aus Eigeninitiative handeln, ist schwer zu beantworten. Als alarmierend empfanden jedoch viele die Aussage Wladimir Putins vor wenigen Wochen - bezogen auf die gesellschaftliche Unterstützung der russischen Truppen in der Ukraine und deren Kritiker: "Das russische Volk wird immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden und sie einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist. Ich bin davon überzeugt, dass eine solche natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land, unsere Solidarität, unseren Zusammenhalt und unsere Bereitschaft, auf alle Herausforderungen zu reagieren, nur stärken wird."
Muratow meldet sich aus Krankenhaus
Am Vormittag erschien ein neues Foto von Muratow - aus dem Krankenhaus. Die Ärzte hätten eine Verätzung seiner Augen und der Bindehaut festgestellt, schrieb die Reaktion der "Nowaja Gazeta" auf Telegram. Das mutmaßlich Farb-Aceton-Gemisch ist aus seinem Gesicht entfernt. Seine Haare aber sind noch immer blutrot.