Nach Fund toter Geiseln Generalstreik in Israel gestartet
Um den Druck auf die Netanyahu-Regierung zu erhöhen, ist in Israel ein Generalstreik angelaufen. Dazu hatte der größte Gewerkschaftsverband aufgerufen. Flüge waren verspätet, Schulen geschlossen und Straßen blockiert.
In Israel hat nach dem Fund der Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen ein großer, eintägiger Proteststreik begonnen. Viele Städte und Gemeinden schlossen sich dem Protest an.
Am internationalen Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv wurden in der Zeit von 8 bis 10 Uhr Ortszeit (7 bis 9 Uhr MESZ) Abflüge gestoppt. Betroffene Flüge starteten entweder früh oder hatten etwas Verspätung. Laut der israelischen Flughafenbehörde war der Betrieb für ankommende Flüge normal. Dem israelischen Sender Channel 12 zufolge wurde aufgegebenes Gepäck nicht mehr in die Flugzeuge gebracht.
Von Schulen, Kliniken bis Restaurants
Der Gewerkschafts-Dachverband Histadrut hatte am Sonntag angekündigt, er wolle das Land einen Tag lang zum Stillstand bringen. Ziel ist es, den Druck auf Regierungschef Netanyahu zu erhöhen, damit er einem Deal zur Freilassung der verbliebenen Geiseln zustimmt.
Banken, Kindergärten und Universitäten blieben geschlossen, Krankenhäuser und Schulen arbeiteten nur eingeschränkt und weite Teile des öffentlichen Nahverkehrs standen still.
Histadrut vertritt Hunderttausende Angestellte. Der Chef der Gewerkschaft, Arnon Bar David, erklärte, zunächst sei der Streik auf Montag beschränkt. "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass nur unser Eingreifen diejenigen wachrütteln kann, die wachgerüttelt werden müssen", sagte er mit Blick auf die Regierung von Netanyahu. Dieser wird vorgeworfen, ein Abkommen über die Freilassung der Geiseln mit immer neuen Forderungen zu verhindern. "Wir bekommen Leichensäcke statt eines Abkommens."
Staat wollte Ausstand verhindern
Medienberichten zufolge beantragte der Staat bei einem Arbeitsgericht, den Ausstand abzusagen mit der Begründung, dieser sei politisch motiviert. Eine Anhörung wird für den späten Vormittag erwartet. Auch der gegen den Streik gerichtete Antrag des "Heldenforums", deren Mitglieder Angehörige von im Gazastreifen getöteten Soldaten sind, werde geprüft. Das Forum hatte erklärt, es handele sich eindeutig um einen politischen Streik, "der offenkundig illegal ist und in einer schikanösen Weise durchgeführt wird".
Geisel-Angehörige hatten an Gewerkschaften appelliert
Zuvor hatte bereits das Forum der Geisel-Angehörigen zum Generalstreik aufgerufen und an die Gewerkschaften appelliert, sich dem anzuschließen. Damit solle die Regierung dazu gebracht werden, unverzüglich ein Abkommen zur Freilassung der noch lebenden Geiseln zu schließen, erklärte das Forum der Familien der Geiseln und Vermissten.
Oppositionsführer Jair Lapid schloss sich dem an. "Netanyahu und das Kabinett des Todes haben beschlossen, die Geiseln nicht zu retten", schrieb er auf der Plattform X. Sie seien für den Tod der Geiseln verantwortlich.
Gallant fordert Rücknahme von Kabinettsbeschluss
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant rief seine Kabinettskollegen auf, nicht wie zuvor beschlossen auf einer andauernden israelischen Militärpräsenz im sogenannten Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten zu bestehen. "Für die Entführten, die kaltblütig ermordet wurden, ist es zu spät", schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X. "Die anderen Geiseln, die sich noch in der Gefangenschaft der Hamas befinden, müssen nach Hause zurückgebracht werden."
Das Sicherheitskabinett hatte in der Nacht zum Freitag entschieden, israelische Truppen in dem Korridor zu belassen. Kritiker Netanyahus warfen ihm vor, er habe sich damit de facto dafür entschieden, die Geiseln zu opfern. Die Anwesenheit israelischer Truppen in dem Grenzgebiet ist ein zentraler Streitpunkt in den Verhandlungen über eine Feuerpause und eine Geiselfreilassung. Gallant hatte als einziger gegen den Kabinettsbeschluss gestimmt. Die Regierung müsse "unverzüglich zusammenkommen und die am Donnerstag getroffene Entscheidung zurücknehmen", forderte er nun.
Massendemos am Sonntag
Bereits am Sonntagabend hatten bei den möglicherweise größten Massenprotesten seit Beginn des Gaza-Kriegs Medienberichten zufolge Hunderttausende für ein sofortiges Abkommen mit demonstriert. Bei Protesten in Tel Aviv und anderen Städten kam es teils zu Zusammenstößen mit der Polizei. Laut örtlichen Medien gab es Dutzende von Festnahmen.
Allein in der Küstenmetropole Tel Aviv versammelten sich nach Schätzung der Organisatoren rund 300.000 Menschen, wie die "Times of Israel" am Abend berichtete. Offizielle Zahlen gab es nicht. Teilnehmer der Protestkundgebung blockierten am Abend eine zentrale Schnellstraße. Medienberichten zufolge warfen sie Steine, Zäune, Nägel und Metallgegenstände auf die Fahrbahn, entzündeten ein Feuer und schossen Feuerwerkskörper in die Luft.
Armee: Geiseln von Hamas ermordet
Fast elf Monate nach dem Überfall der Terrormiliz Hamas auf Israel hatte die israelische Armee am Samstag in einem Tunnel bei Rafah im Süden des Gazastreifens die Leichen von sechs Geiseln gefunden. "Sie wurden von Hamas-Terroristen brutal ermordet, kurz bevor wir zu ihnen vorgedrungen sind", sagte Armeesprecher Daniel Hagari.
Hamas Vertreter warfen Israel hingegen vor, die sechs Geiseln seien durch Bombenangriffe getötet worden. Die israelische Armee wies diese Äußerungen als "psychologische Kriegsführung" zurück. Israelischen Medienberichten zufolge sollten drei der jetzt tot gefundenen Geiseln im Falle eines Abkommens freikommen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Bei einem Großangriff auf zahlreiche Orte im Süden Israels hatte die militant-islamistische Hamas am 7. Oktober nach israelischen Angaben 1.205 Menschen getötet und 251 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Knapp elf Monate später befinden sich nach jüngsten israelischen Angaben noch immer etwa 100 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer militanter Palästinensergruppen, etwa ein Drittel von ihnen soll bereits tot sein.