Polio-Impfung im Gazastreifen in Chan Yunis
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Hilfseinsatz im Kriegsgebiet Polio-Impfungen im Gazastreifen - wie geht das?

Stand: 01.09.2024 00:00 Uhr

Die Viruserkrankung Polio kann zu Lähmungen bei Kindern führen. Im Gazastreifen ist das bei einem Jungen passiert. Er war nicht geimpft. Nun gibt es eine Feuerpause, damit mehr als 600.000 Kinder eine Impfung bekommen. Wie funktioniert der Hilfseinsatz?

Warum gibt es die Impfkampagne?

Auslöser der Impfkampagne, die 640.000 Kinder erreichen soll, war die Entdeckung der ersten Polio-Infektion seit 25 Jahren in dem Küstengebiet. Betroffen war ein zehn Monate alter Junge, der seitdem ein Bein nicht mehr bewegen kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vermutet, dass Hunderte weitere Menschen infiziert sind, ohne Symptome zu zeigen.

Der WHO zufolge gibt es mindestens zwei weitere Kinder mit Lähmungserscheinungen im Gazastreifen. Stuhlproben der Kinder sollen an ein Labor in Jordanien geschickt worden sein. Das Virus wurde im vergangenen Juli in Umweltproben aus Chan Yunis und Deir al-Balah nachgewiesen.

Medizinische Mitarbeiter im Gazastreifen warnen seit Monaten vor einem Ausbruch von Polio. Die Lage der Menschen hat sich seit Beginn des Gaza-Krieges, der von einem Hamas-geführten Angriff auf Israel am 7. Oktober ausgelöst wurde, immer weiter verschärft.

Wie lange dauert die Impfkampagne?

Um die Kinder impfen zu können, soll es eine begrenzte Unterbrechung des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen geben. Das Kinderhilfswerk UNICEF teilte mit: "Ohne die humanitären Pausen wird die Durchführung der Impfkampagne nicht möglich sein."

Der dreitägige Einsatz im Zentrum des Gazastreifens soll am Sonntag während einer Feuerpause beginnen, die von 6 bis 15 Uhr dauert. Sie kann bei Bedarf um einen weiteren Tag verlängert werden, wie der WHO-Vertreter in den palästinensischen Gebieten, Rik Peeperkorn, sagte. Nach Angaben der für Palästinenserangelegenheiten zuständigen israelischen Behörde Cogat soll vom 4. bis 6. September im südlichen Gazastreifen geimpft werden, vom 7. bis 9. September im nördlichen Gazastreifen. 

Bereits am Samstag wurden erste Kinder im Gazastreifen geimpft.

Wer wird im Gazastreifen geimpft?

Die Impfkampagne richtet sich nach Angaben der WHO an 640.000 Kinder unter zehn Jahren. Jedes Kind erhält zwei Tropfen des oralen Polio-Impfstoffs in zwei Durchgängen, wobei die zweite Dosis vier Wochen nach der ersten verabreicht wird. Wenn Kinder nicht alle Dosen erhalten, besteht die Möglichkeit einer Infektion.

Verabreicht wird der neuartige orale Polio-Impfstoffs Typ 2 (nOPV2). Rund 1,3 Millionen Dosen des Impfstoffs wurden über den Kontrollpunkt Kerem Schalom gebracht und in einem Lagerhaus in Deir al-Balah gekühlt aufbewahrt. Eine weitere Lieferung von 400.000 Dosen soll demnächst in den Gazastreifen geliefert werden.

Die WHO will mit der Kampagne mehr als 90 Prozent der Kinder erreichen. Diese Abdeckung sei nötig, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Wo werden die Kinder geimpft?

Die Impfstellen sind über den gesamten Gazastreifen verteilt. Sie liegen sowohl innerhalb als auch außerhalb der israelischen Evakuierungszonen, von Rafah im Süden bis in den Norden des Gebiets. Das in Ramallah ansässige palästinensische Gesundheitsministerium teilte mit, es werde mehr als 400 Orte für die Impfungen geben. Zu den festen Standorten gehören Gesundheitszentren, Krankenhäuser, Kliniken und Feldlazarette.

Die meisten Stellen soll es in Chan Yunis im Süden des Küstengebiets geben. Dort ist die Bevölkerungsdichte am höchsten. 239.300 Kinder unter zehn Jahren leben dort.

Die Impfstoffe werden von einem Team von mehr als 2.000 freiwilligen medizinischen Helfern per Lastwagen zu den Verteilstellen gebracht, wie UNICEF-Sprecher Ammar Ammar sagte.

Welche Symptome haben Kinder mit Polio?

Die meisten Menschen, die an Polio erkranken, zeigen keine Symptome. Diejenigen, die daran erkranken, haben meist Fieber, Kopfschmerzen und leiden unter Übelkeit. In der Regel erholen sich die Kinder innerhalb von etwa einer Woche.

Immunologe Reinhold Förster beschreibt im tagesschau-Interview, wann eine Infektion gefährlich wird: "Bei ungefähr einem Prozent der Infizierten gelangt das Virus aus dem Darm über das Blut ins Rückenmark und befällt dort Nerven." Dies könne zu Lähmungserscheinungen führen. Wenn Polio zu Lähmungen führt, sind diese meist dauerhaft. Wenn die Lähmung die Atemmuskulatur betrifft, kann die Krankheit tödlich sein.

Verbreitet wird das Virus meist über kontaminiertes Wasser oder Essen.

Welche Schwierigkeiten gibt es?

Die Straßen im Gazastreifen sind weitgehend zerstört, die Krankenhäuser schwer beschädigt und die Bevölkerung in isolierten Gebieten verteilt. Deshalb wird der medizinische Einsatz extrem kompliziert. Laut WHO können die Helfer die Impfstoffe nicht zu den Menschen bringen. Stattdessen müssen die Familien an die jeweiligen Impfstationen kommen.

Die Hilfsorganisation Medical Aid for Palestinians sieht darin ein Problem: Viele Menschen im Gazastreifen hätten große Probleme, überhaupt zu Gesundheitseinrichtungen zu kommen, sagt Mitarbeiter Samir Sah. "Es gibt kein Transportsystem. Die Straßen sind zerstört."

Ein weiteres Problem: Experten haben bereits festgestellt, dass Kinder, die unterernährt sind oder andere Krankheiten haben, in manchen Fällen mehr als zehn Dosen des oralen Impfstoffs benötigen, um vollständig geschützt zu sein. Seit dem Kriegsbeginn sind viele Kinder im Gazastreifen nicht ausreichend versorgt.

Mit Material der Nachrichtenagentur AP