Krieg im Gazastreifen Wachsende Angst vor einer Polio-Epidemie
Jeden Tag toben im Gazastreifen Kämpfe und die Zerstörung nimmt zu. Inmitten des Krieges droht nun die Ausbreitung des Polio-Erregers. Doch für Impfungen bräuchte es dringend eine Feuerpause.
Ghada al-Ghandour ist in das Al-Aksa-Krankenhaus in Deir al-Balah gekommen. Eines der Krankenhäuser im Gazastreifen, das noch einigermaßen funktioniert. Nur noch 14 von 36 Krankenhäusern arbeiten derzeit.
Seit sie im Juli im Trinkwasser Polio-Viren gefunden haben, macht die junge Mutter sich Sorgen. Ihr Sohn Mohammed ist vor einem Monat geboren. "Ich habe Angst, dass es schlechter wird und es mehr Polio-Fälle gibt. Wir wollen die Polio-Impfung für die Kinder früh, damit sie geimpft sind, bevor es schlimmer wird", sagt al-Ghandour.
Ihr Sohn habe die Impfung im ersten Monat nicht bekommen, deshalb habe sie ihn ins Krankenhaus gebracht, auch damit seine Gesundheit besser werde. "Ihm fehlt Behandlung und Nahrung, mein Sohn braucht Vitamine und Stärkungsmittel, die es nicht gibt", sorgt sich die Mutter.
Ein hochansteckender Erreger
Hier in Deir al-Balah, im mittleren Gazastreifen, gibt es jetzt den ersten bestätigten Fall von Kinderlähmung. Polio. Und es gibt weitere Verdachtsfälle.
Vor zwei Tagen gab Majed Abu Ramadan, Gesundheitsminister der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, bekannt, dass es im Gazastreifen einen Fall von aktiver Kinderlähmung gegeben habe. "Das betrifft ein zehn Monate altes Baby, das nie die Chance hatte, eine Impfung zu bekommen - wegen des Krieges und der Zerstörung der meisten Gesundheitseinrichtungen", so Ramadan. Dieses Kind habe nie die Chance gehabt, zwei Tropfen der Polio-Impfung zu bekommen.
Polio ist hochansteckend. Der Erreger kann bei Kindern zu schweren und bleibenden Lähmungen führen. Wird die Atemmuskulatur betroffen, ist die Krankheit tödlich. Impfstoffe gibt es schon seit Jahrzehnten. In Europa wurde seit den 1960er-Jahren der flüssige Impfstoff auf einem Stück Würfelzucker verabreicht. Europa gilt seit 2002 als frei von Polio.
Es fehlt an Impfungen für Neugeborene
Doch der Krieg im Gazastreifen sorgt dort nun offenbar für die Ausbreitung. Die flächendeckende Zerstörung des Küstenstreifens hat auch dazu geführt, dass viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
Galia Rahav, die die Infektionsabteilung am Sheba Medical Center leitet, einem der größten Krankenhäuser in Israel, spricht von einer Polio-Epidemie im Gazastreifen. Sie sagte in einem Radiointerview:
Ein einziger Polio-Fall wird bereits als Epidemie verstanden. Wir sind an einem Punkt, an dem wir die Neugeborenen im Gazastreifen impfen müssen. Zum einen sind wir aus humanitärer Sicht dazu verpflichtet und zum anderen müssen wir dafür sorgen, dass das Virus uns nicht erreicht, wir müssen uns schützen.
Das Problem bestehe darin, dass niemand unter Feuerbeschuss für eine Impfkampagne in den Gazastreifen kommen werde, mahnt Rahav. Deswegen werde eine Feuerpause für einige Tage gefordert, damit Impfungen durchgeführt werden können. "Ich denke, dass wir dieser Forderung nachkommen müssen, denn die Neugeborenen müssen dort geimpft werden", fordert Rahav.
UN drängen auf Feuerpause
Laut Experten sollten alle Kinder im Gazastreifen unter zehn Jahren gegen Polio geimpft werden - etwa 650.000 Kinder. Vor dem Krieg war das zu leisten, es gab ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wie jetzt, angesichts der anhaltenden Kämpfe, 1,3 Millionen Impfdosen verteilt werden sollen, ist unklar.
UN-Generalsekretär António Guterres hat eine klare Forderung: "Vor allem braucht eine erfolgreiche Polio-Impfung Sicherheit - für das medizinische Personal, damit sie ihren Job machen können. Für Kinder und Familien, damit sie zu den Einrichtungen kommen. Und: Die Gesundheitszentren müssen vor den Bomben geschützt sein." Der wichtigste Schutz gegen Polio sei eine sofortige humanitäre Feuerpause. "Es ist unmöglich, eine Impfkampagne durchzuführen, wenn überall der Krieg tobt. Polio ist jenseits der Politik", betont Guterres.
Doch die Kämpfe im Gazastreifen gehen auch in diesen Stunden weiter, auch die Luftangriffe. Zwar wird gerade über eine Feuerpause verhandelt, doch noch ist unklar, ob und wann sie kommt. Für die leidende Bevölkerung in Gaza wäre sie dringend nötig - und für den Kampf gegen die Kinderlähmung sowieso.