Gewalt in Nahost Israels Militäroperation und der Anschlag in Tel Aviv
Nach dem israelischen Armee-Einsatz im Westjordanland und einem neuen Anschlag in Israel eskaliert die Gewalt in der Region. Welche Strategie verfolgt die israelische Regierung, wie sind die neuen palästinensischen Terrorangriffe einzuordnen?
An Sondersendungen mangelt es den großen israelischen Fernsehsendern in diesen Tagen nicht: Am frühen Montagmorgen beginnt die Live-Berichterstattung über den nächtlichen Start der umfangreichsten Militäroperation der israelischen Streitkräfte im dichtbewohnten Flüchtlingslager von Dschenin, im äußersten Norden des besetzten Westjordanlandes.
Armeesprecher und politische Kommentatoren begleiten den ersten Tag eines Einsatzes, den Dschenin seit 21 Jahren nicht mehr erlebt hat, seit dem zehntägigen, verlustreichen Einmarsch israelischer Einheiten auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada. Damals hatte Premierminister Ariel Scharon nach einer Serie von verheerenden Anschlägen die Operation "Schutzschild" befohlen. Jetzt lautet die Operation "Heim und Garten", wie sie Premierminister Benjamin Netanyahu am Montagabend nennt.
"Jeder, der Israelis ermordet, gehört ins Gefängnis oder ins Grab"
Der Regierungschef spricht auf dem Empfang des US-Botschafters zum Nationalfeiertag, dem "4th of July". Einige Sätze richtet der in den USA groß gewordene Netanyahu auf Hebräisch an die Zuhörer und kommt auf den Militäreinsatz in Dschenin zu sprechen: Es gebe einen ganz einfachen Grundsatz: "Jeder, der Israelis ermordet, jeder, der plant, uns zu ermorden, gehört entweder ins Gefängnis oder in ein Grab." Die Operation "Heim und Garten" werde so lange weitergehen, "bis die Mission abgeschlossen ist."
"Heim und Garten" - es gibt einen zweiten Ausdruck im politischen israelischen Sprachgebrauch, der einen ähnlichen Bezug zu Gärtnertätigkeiten hat: "den Rasen mähen." Gemeint ist die Wiederkehr von zeitlich limitierten Militäroperationen Israels gegen extremistische, bewaffnete Palästinensergruppierungen. Sofern nicht in regelmäßigen Abständen das mutmaßliche militärische Potenzial von Hamas und Islamischem Dschihad zerstört werde, wüchsen die Bedrohungsszenarien für Israel zu sehr. Dies geschah in der Vergangenheit mit der im Gaza-Streifen herrschenden Hamas in einem Abstand von etwa zwei, maximal drei Jahren immer wieder. Nun richtete sich die israelische Militäroperation gegen palästinensische Extremisten in der nördlichen Großstadt des Westjordanlandes, die für eine Serie von Anschlägen auf israelische Bürger verantwortlich gemacht wurden, überwiegend im besetzten Westjordanland.
Erst gegen Militäroperation in Dschenin gesträubt
Diesmal hatten sich Netanyahu und die israelische Armeeführung über einen längeren Zeitraum gegen das lautstarke Drängen der beiden rechtsextremen Koalitionspartner aus der Siedlerbewegung gesträubt und lehnten eine groß angelegte Militäroperation inmitten des Flüchtlingslagers von Dschenin zunächst ab. Das Eskalationspotential sowie der befürchtete negative außenpolitische Fallout schienen nicht im Verhältnis zu den Zielen des Einsatzes zu stehen.
Welche Faktoren waren ausschlaggebend, um jetzt doch grünes Licht gegeben zu haben, Einheiten in der Stärke einer Armee-Brigade in einen von rund 14.000 Menschen bewohnten Stadtteil von Dschenin zu schicken?
Spielten die Massendemonstrationen gegen den Abbau der Gewaltenteilung eine Rolle, die wieder an Vehemenz zunehmen und seit 26 Wochen jeden Samstagabend Hunderttausende Menschen auf die Straßen bringen? Wurde damit der fragile Koalitionsfrieden mit den rechtsextremen Ministern Smotrich und Ben-Gvir und den hinter ihnen stehenden Siedlern wiederhergestellt? Ein unfreiwilliges, zeitliches Zusammentreffen von Militäreinsatz und Justizreform?
Anschlag in Tel Aviv
Heute Mittag gab es erneut Sondersendungen, dieses Mal direkt aus Tel Aviv: Die Fernsehsender zeigen die Aufnahmen der Überwachungskamera immer wieder. Im Norden der Metropole steuert ein junger Palästinenser um 13.09 Uhr Ortszeit ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit in Passanten, die an einer Bushaltestelle stehen, steigt danach aus, rennt auf Menschen zu, um sie mit einem spitzen Gegenstand zu attackieren.
Ein Israeli, der auf seinem Motorroller am Tatort war und eine Waffe mit sich trug, erschoss daraufhin den 20-Jährigen. So lautet die Darstellung des Tathergangs, die Israels Polizeichef Kobi Shabtai am frühen Nachmittag mitteilte. Kurz darauf ist der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir am Tatort. Er lobte den Schützen, der den Palästinenser getötet habe. Das sei genau die Politik seines Ministeriums: "Menschen bewaffnen, damit sie sich verteidigen können." Man könne nicht an jeder Straßenecke einen Polizisten aufstellen. Aber man könne Bürgern Waffen geben, damit sie sich verteidigen könnten. Ben-Gvirs Appell an die Bevölkerung: "Tragt Waffen!"
Warnung vor weiteren Anschlägen
Ein Sprecher der extremistischen Hamas im Gaza-Streifen erklärt, der 20-Jährige habe der Hamas angehört. Hamas-Sprecher Kassem erklärte: "Die heldenhafte Aktion in Tel Aviv ist die erste Antwort auf Israels Verbrechen gegen unser Volk im Flüchtlingslager von Dschenin."
Auch der Islamische Dschihad bezeichnete den Anschlag als "erste und natürliche Antwort des Widerstands gegen das, was in Dschenin passiert." Der israelische Polizeichef warnte indes die Bevölkerung mit den Worten: Die Sicherheitsdienste erwarteten einen Anstieg an "Motivationen für Anschläge" während der Militäroperation in Dschenin. Sie dauert noch an.