Drei Monate nach Kriegsende Offener Machtkampf in Armenien
Nach Monaten des Machtkampfs um Premier Paschinjan hat sich in Armenien die Lage massiv zugespitzt: Auch die Militärführung fordert seinen Rücktritt. Paschinjan sprach von Putsch. Anhänger und Gegner demonstrierten.
In Armenien hat sich der Machtkampf zwischen Regierung und Opposition vollends auf die Straßen verlagert. Tausende Anhänger beider Seiten sammelten sich im Laufe des Tages auf zentralen Plätzen in der Hauptstadt Jerewan. Im Mittelpunkt steht Premierminister Nikol Paschinjan, mittelbar geht es um die schwere Niederlage im Krieg gegen Aserbaidschan vor drei Monaten.
Am 9. November 2020 hatte Paschinjan nach verlorenen Kämpfen einer Waffenstillstandsvereinbarung zugestimmt. Die Opposition wirft ihm deshalb Landesverrat vor und fordert seinen Rücktritt. Nicht alle sehen das so, aber Kritik kommt aus vielen Teilen der Gesellschaft, vor allem seitdem die Regierungspartei vor einigen Wochen die zunächst versprochene Neuwahl absagte.
Nun schaltete sich der Generalstab der Streitkräfte ein: Zahlreiche hochrangige Offiziere unterschrieben eine Rücktrittsforderung an Paschinjan und seine Regierung. Sie kritisierten, dass er am Mittwoch den Vizestabschef entlassen hatte, der sich zuvor über Paschinjan lustig gemacht hatte.
Paschinjan reagierte mit dem Vorwurf, das Militär wolle gegen die Regierung putschen. Er warf den Generälen vor, sich nicht den Fragen zum verlorenen Krieg stellen zu wollen. Seine Anhänger rief er zum Protest auf. Auf einem Marsch bis zum Platz der Republik in Jerewan folgten ihm am Mittag Tausende Menschen. Eine seiner Parolen: "Wir brauchen Konversation, nicht Konfrontation!"
Mit dem Marsch beschwor er Erinnerungen an das Jahr 2018 herauf, als er in einer landesweiten Protestwelle mit seinen Anhängern einen friedlichen Machtwechsel herbeiführte.
Konflikt um die Schuld an der Niederlage
Fast zur gleichen Zeit rief die ehemalige Regierungspartei der Republikaner vereint mit anderen Oppositionsparteien zur Kundgebung auf den 500 Meter entfernten Opernplatz. Sie stellte Paschinjan neuerlich ein Ultimatum zum Rücktritt. In der Hauptstadt kam es zu Schimpftiraden und Rangeleien zwischen den politischen Gegnern.
Das Oppositionsbündnis aus 16 Parteien geht seit Wochen gegen die Regierung auf die Straßen. Mehr als einige Tausend Teilnehmer konnte es aber nie mobilisieren. Es liegt daran, dass ein Teil der Oppositionskräfte wie die Partei der "Daschnakzutjun" radikal nationalistisch und revanchistisch auftritt. Dazu zählen Forderungen nach Rache für die Kriegsniederlage.
Die Republikaner und weitere ehemals an der Macht beteiligte Akteure bleiben hingegen in den Augen großer Teile der Bevölkerung diskreditiert. Sie stehen für jahrelangen Machtmissbrauch, massive Wahlfälschungen und Korruption, die offenbar auch die Wehrfähigkeit des Landes beeinträchtigt hat. So gibt es Ermittlungen gegen einen armenischen Militärberater und Waffenhändler, der dem Militär veraltetes Militärgerät verkauft haben soll.
An Äußerungen Paschinjans zur mangelhaften Bewaffnung der armenischen Streitkräfte entzündete sich auch der Streit zwischen dem Premier und dem Militär. Er behauptete, von Russland gekaufte Iskander-Raketen hätten im Krieg nicht oder fast nicht funktioniert. Sie waren bereits unter der Vorgängerregierung angeschafft worden.
In einer gerade erschienen Gallup-Umfrage geben 32 Prozent der Menschen in Armenien der Vorgängerregierung die Schuld an der Kriegsniederlage und 29 Prozent der Regierung Paschinjans, die seit 2018 im Amt ist. Fast 60 Prozent sind demnach für eine Neuwahl. In Bezug auf Paschinjan ist das Land gespalten: 43 Prozent sind für seinen Rücktritt, 38 Prozent wollen ihn weiter als Premier - vor allem angesichts fehlender Alternativen: Kein Politiker schnitt in der Umfrage besser ab als er.
Angespannte Lage im Süden
Auch drei Monate nach Vereinbarung des Waffenstillstands unter Vermittlung Russlands ist der Krieg in Armenien allgegenwärtig. Hunderte Angehörige warten auf Nachricht von vermissten Soldaten und Kriegsgefangenen, die der Gegner Aserbaidschan nicht freilässt.
An der südlichen Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan gibt es seit Wochen Spannungen. An mehreren Stellen ist der Grenzverlauf umstritten, viele Armenier dort befürchten ein Vorrücken der aserbaidschanischen Streitkräfte.
Darüber hinaus ist das Land von der Pandemie geschwächt, Impfungen sollen erst beginnen. Die wirtschaftliche und soziale Lage ist angespannt. Armeniens Verbündeter Russland das mit mehreren Tausend Soldaten und Grenztruppen präsent ist, rief zu Ruhe im Land auf.