Türkische Drohne "Bayraktar TB2"
Analyse

Drohnen in Kriegseinsätzen Sieben Sekunden, um wegzulaufen

Stand: 20.11.2020 12:52 Uhr

Länder wie die Türkei sind Vorreiter beim Einsatz von Kampfdrohnen. Sie brechen damit Waffenembargos - und verändern die Kriegsführung. Militärexperten warnen: Europa ist nicht vorbereitet.

Eine Analyse von Silvia Stöber

Ob in Syrien, in Libyen oder nun im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan - in der Nachbarschaft Europas werden Konflikte militärisch ausgetragen. Internationale Organisationen werden nicht ernst genommen, die Regeln des Völkerrechts missachtet.

Beteiligte Staaten entwickeln dabei Waffentechnik und Taktik weiter. Syrien nennt der türkische Militärexperte Can Kasapoglu aus Istanbul ein "Labor für die Kriegsführung des 21. Jahrhunderts". In Analysen beschreibt er, wie Russland und die Türkei Drohnen mit Geschützen und anderem Kriegsgerät über elektronische Netzwerke koordinieren.

Wie überlegen schlagkräftig diese Kombination sein kann, zeigt der Sieg Aserbaidschans im Krieg gegen Armenien. Aserbaidschan profitierte dabei stark von seiner militärstrategischen Partnerschaft mit der Türkei. Die armenischen Streitkräfte in Bergkarabach waren eingegraben in ihren Schützengräben und setzten auf Panzer, Artillerie und Raketen. Sie waren leichte Ziele. Das zeigen Videos des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums. Analysten wie Stijn Mitzer aus Amsterdam dokumentierten anhand von Bildmaterial die Verluste der Armenier, darunter allein 185 Kampfpanzer.

Drohnen als Späher und Waffen

Drohnen werden in Kämpfen vielseitig eingesetzt. Die türkische "Bayraktar TB-2" oder die israelische "Hermes 900" dienen zum Auskundschaften feindlicher Stellungen, die dann mit Raketen und Artilleriegeschossen angegriffen werden.

Der Militärexperte Fuad Schabasow in Baku berichtete zudem, die Streitkräfte seines Landes hätten Antonow-AN-2-Mehrzweckflugzeuge aus Sowjet-Produktion umgerüstet, so dass sie per Fernsteuerung in niedriger Höhe über armenische Stellungen fliegen konnten. Ihre Positionsdaten seien von weiteren Drohnen in größerer Höhe registriert und zum Ausschalten der armenischen Flugabwehr verwendet worden.

"Bayraktar TB-2" und andere Drohnen können mit Raketen bestückt werden. Daneben gibt es "Kamikaze-Drohnen", die über einem Gebiet kreisen, bis ein Pilot ein Ziel aussucht, auf das sich die Drohne dann stürzt. Aserbaidschan verfügt über solche Drohnen aus israelischer Produktion.

Verheerend wirksam - und demoralisierend

Die armenischen Streitkräfte mit ihren veralteten Fliegerabwehrsystemen seien nicht in der Lage gewesen, die "Bayraktar TB-2" und die Kamikaze-Drohnen zu erkennen und abzuschießen, erklärte Markus Reisner auf Anfrage von tagesschau.de. Er ist Leiter der Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie des Österreichischen Bundesheers.

Die aserbaidschanischen Streitkräfte hätten die Reserven der Armenier vom Gefechtsfeld abgeschnitten, während sie selbst ohne direkten Kontakt zum Gegner ihre Verluste gering halten konnten, so der Militärexperte Gustaf Gressel vom "European Council on Foreign Relations" im Interview mit tagesschau.de. Während die Armenier ihre Kräfte nicht verstärken konnten, hätten die numerisch überlegenen Aserbaidschaner immer Ort und Zeit der Gefechte bestimmen können.

Erschöpfung und insbesondere die Kamikaze-Drohnen wirkten demoralisierend auf die Armenier. Der Journalist Tatul Hakobjan erzählte tagesschau.de, sobald das Sirren der Drohnen zu hören sei, blieben sieben Sekunden, um wegzulaufen.

Der Präsident Bergkarabachs, Araik Harutjunjan, sagte kurz nach Ende der Kämpfe, freiwillige Kämpfer und Reservisten seien aus dem Kampfgebiet geflohen. Armenische Spezialeinheiten hätten sich geweigert, an der Front zu kämpfen.

Eine "Bayraktar BT-2"-Drohne

Türkische "Bayraktar BT-2"-Drohnen werden zum Auskundschaften eingesetzt und können mit Raketen bestückt werden.

Russlands Schockmoment in Syrien

Russland als Schutzmacht Armeniens griff nach Aussage Reisners in der Endphase des Krieges auf Seiten seines Verbündeten ein. Es gebe klare Hinweise, dass russische "Orlan 10"-Drohnen zur Zielaufklärung für armenische Artilleriesysteme und von Krasukha-4-Störsystemen eingesetzt wurden, um die "Bayraktar TB-2" abzuschießen.

Russlands Streitkräfte haben reichlich Erfahrung mit Drohnenangriffen, so am Luftwaffenstützpunkt Hamaimim in Syrien. Dort griffen ganze Schwärme bewaffneter Drohnen an, so Reisner: "Auch hier hatte man einen Schockmoment. Aus diesem hat man gelernt."

Gressel zufolge ist Russland den Türken im Bereich elektronischer Kampfführung vermutlich überlegen. "Nur schützt Russland in Armenien und Syrien nur jeweils seine eigenen Truppen und Stützpunkte durch eigene Flugabwehrsysteme und Störsender. Die 'Verbündeten' müssen sich mit Exportversionen zufrieden geben. Das klappt dann meist weniger gut."

Auch Europa wäre Kampfdrohnen nicht gewachsen

Nach Meinung beider Experten wären die europäischen Staaten den Waffen, die Aserbaidschan eingesetzt hat, nicht gewachsen. Flugabwehrsysteme der Streitkräfte Polens oder Frankreichs seien nur auf Luftfahrzeuge ausgerichtet, so Reisner. Kleine Angriffsdrohnen "schlüpften" durch die Überwachungssysteme und könnten im Schwarm Abwehrmaßnahmen überwinden. Zudem könnten elektronische Störmaßnahmen die Systeme erblinden lassen.

Gressel zufolge wurden Fliegerabwehr und elektronische Kampfführung in vielen Staaten abgebaut. Fähigkeiten zum Stören militärischer Kommunikation und von Flugobjekten gebe es nicht. Bei kleineren europäischen Armeen sehe es bei Kernfähigkeiten wie Panzerabwehr und Artillerie schlecht aus. Die Bundeswehr besitze immerhin zum Schutz von Feldlagern einige wenige Drohnenstörer sehr kurzer Reichweite und Flugabwehrkanonen mit programmierbarer Munition. Den Schutz mobiler Einheiten könne sie dennoch nicht bewerkstelligen, denn das verwendete System "Ozelot" reiche nicht aus, erklärte Gressel.

Auch Reisner sieht bei der Bundeswehr Nachholbedarf. Sie sei wie alle europäischen Streitkräfte "im Nah- und Nächstbereich ... offen gesagt ... nahezu schutzlos".

Nächste Eskalation droht

Die moderne Drohnentechnik verbreitet sich in vielen Konfliktgebieten, auch weil Waffenexportverbote nicht durchgesetzt werden. Ein Beispiel nennt Reisner: Die Türkei breche ein UN-Waffenembargo, indem sie mit ihren Kriegsschiffen Frachter mit Drohnen nach Libyen eskortiere. "Die österreichische Firma ROTAX liefert die Motoren für türkische TB-2-Drohnen. Im Auftrag des Mutterkonzerns wird nun versucht dies zu unterbinden", so Reisner.

Doch hier springe die Ukraine ein: Sie wolle künftig die Motoren für die türkischen Drohnen herstellen. Die Ukraine baue zudem inzwischen selbst "Kamikaze-Drohnen" mit Blick auf die "Rückeroberung" der Ostukraine, erklärt Reisner und warnt: "Die nächste Konflikteskalation steht somit vor der Haustür."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten Deutschlandfunk am 18. April 2020 um 18:40 Uhr ("Hintergrund") und das Erste am 20. August 2020 um 21:45 Uhr in der Sendung "Monitor".