Engagement in Konfliktgebieten Nur leere Parolen?
Die Bundesregierung will sich in Konfliktgebieten für Frieden einsetzen. Doch in einem aktuellen Fall, nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, zieht sie Kritik auf sich - für "leere Parolen".
"Mit ihren Fördermaßnahmen zur Vergangenheitsarbeit will die Bundesregierung Friedens- und Versöhnungsprozesse nachhaltig unterstützen und Menschenrechte stärken. Insbesondere will sie dazu beitragen, in einer Post-Konflikt-Situation erneuten Gewaltdynamiken vorzubeugen", heißt es in einem Strategiepapier der Bundesregierung aus dem Jahr 2019. Ziel ist demnach ein stärkeres Engagement nach gewaltsamen Konflikten oder Machtwechseln in anderen Staaten.
Dringender Bedarf für ein solches Engagement besteht aktuell im Südkaukasus, nachdem Armenien und Aserbaidschan vor wenigen Wochen einen sechswöchigen Krieg mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstand beendet haben, der entscheidende Fragen für einen langfristigen Frieden offen ließ. Die Lage ist weiter angespannt - es drohen, wie im Strategiepapier beschrieben, neue "Gewaltdynamiken".
Ein Tweet der Menschenrechtsbeauftragten
Was die Bundesregierung in diesem Fall unternimmt, wollte der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir von Bündnis90/Die Grünen wissen. Das Auswärtige Amt antwortet mit einem Schreiben vom 19. Januar, das tagesschau.de vorliegt. Die Bundesregierung habe Vertreter Armeniens und Aserbaidschans wiederholt aufgefordert, Völkerrechtsverletzungen aufzuklären und Beteiligte zur Rechenschaft zu ziehen, heißt es darin.
Dies habe die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, am 15. Dezember auch in den sozialen Medien gefordert. Ansonsten verweist das Auswärtige Amt auf ein ähnlich lautendes Statement des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell von Mitte November. Im Rahmen der EU, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Vereinten Nationen habe die Bundesrepublik außerdem mit Nachdruck auf die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte aufgerufen.
"Engagement gefragt"
Özdemir kritisiert den Unterschied zwischen Anspruch und Handeln in diesem Fall: "Trotz ihrer neuen Strategie hat die Bundesregierung im Bergkarabach-Konflikt scheinbar nicht mehr vorzuweisen als leere Appelle und einen Beitrag in den sozialen Medien. Ohne Aufarbeitung der Kriegsverbrechen wird es keinen nachhaltigen Frieden geben", teilte er tagesschau.de mit.
Der Grünen-Politiker stimmt dem Auswärtigen Amt insoweit zu, als eine Aufarbeitung von Kriegsverbrechen "zweifellos schwierig und langwierig" sei. "Doch unser Engagement ist hier gefragt, wenn wir die Region nicht völlig der russischen und türkischen Machtpolitik, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, überlassen möchten."
Ein internationales Vermittlungsgremium der OSZE, die Minsk-Gruppe, konnte weder zum Stopp der Eskalation beitragen noch den Ausgang des Krieges beeinflussen, der wesentlich von Russland als Vermittler und Verbündeter Armeniens sowie von der Türkei als strategischer Partner Aserbaidschans bestimmt wurde. Von der Neuordnung, die Russland und die Türkei nun in der Region nun vornehmen, bleiben die OSZE und die EU bislang weitgehend ausgeschlossen.
Vorschläge für eine Wahrheitskommission
Özdemir sieht dennoch Handlungsmöglichkeiten zur Stabilisierung der Lage in der Region. Die Bundesregierung solle prüfen, wie sie konkrete Ideen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in Armenien sinnvoll unterstützen könne, beispielsweise die Einrichtung einer Wahrheitskommission. Und wenn auch die Lage im autoritär geführten Aserbaidschan schwierig sei, könne die Bundesregierung zivilgesellschaftlichen Austausch fördern.
Das Auswärtige Amt nennt als "wesentliche Herausforderungen bei der umfassenden Aufarbeitung" ungeklärte rechtliche Fragen und eine intransparente Informationslage. Auf eine Anfrage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Manuel Sarrazin im Dezember hatte das Außenministerium mitgeteilt, aus Medienberichten über Verstöße gegen das Völkerrecht und mögliche Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen erfahren zu haben. Darüber hinaus verfüge die Bundesregierung über keine eigenen Kenntnisse.
Untersuchung von Gräueltaten
Inzwischen liegen erste Untersuchungsergebnisse vor: Die Organisationen Human Rights Watch und Amnesty International haben vor Ort Recherchen durchgeführt und online veröffentlichtes Material ausgewertet.
Ein Aspekt ist der Einsatz von Streumunition und "Sprengwaffen mit großflächiger Wirkung" in Wohngebieten durch die Streitkräfte beider Seiten, was zum Tod zahlreicher Zivilisten geführt habe und gegen das Kriegsrecht verstoße, stellte Amnesty International in einem Bericht Mitte Januar fest, in dem 17 Angriffe beider Seiten konkret beschrieben werden.
Ein zweites Thema sind schwere Misshandlungen an Gefangenen. In mindestens zwei Fällen enthaupteten aserbaidschanische Soldaten armenische Gefangene bei lebendigem Leibe und filmten dies. Auch von Misshandlungen aserbaidschanischer Gefangener durch armenische Soldaten gibt es Aufnahmen. Die Bilder lassen nicht nur Rückschlüsse auf die Beteiligten zu, sie schockierten auch viele Internetnutzer schwer, was auf beiden Seiten noch einmal Traumatisierungen, Wut und Hass verstärkte.
Eine Untersuchungskommission der EU
Auch Ideen und Beispiele dafür, wie sich Deutschland und die EU in die Aufarbeitung einbringen können, liegen vor. Der Kaukasus-Experte Laurence Broers von der NGO Counciliation Resources sieht ebenfalls Möglichkeiten für die EU, die Untersuchung der Kriegsverbrechen und Gräueltaten zu unterstützen.
Er erinnert an die "Tagliavini"-Kommission zur Aufarbeitung des Krieges zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008. Für die umfangreiche Untersuchung unter Führung der ehemaligen Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini hatte sich der damalige deutsche Außenminister und derzeitige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier maßgeblich eingesetzt. Im aktuellen Fall könne eine Betrachtung aus externer Perspektive lokalen Akteure dabei helfen, das Verantwortungsbewusstsein in den eigenen Gesellschaften zu fördern, so Broers im Interview mit tagesschau.de.
Er rechnet auch mit einer Befassung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ergebnisse können allerdings lange auf sich warten lassen: Das Urteil zu einer Klage Georgiens gegen Russland wegen des Krieges 2008 fiel gerade erst - mehr als zwölf Jahre nach Ende des Krieges. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst, aber die Spannungen haben auch dank internationalen Engagements zur Aufarbeitung nachgelassen.