Krieg um Bergkarabach Ein historischer Tag im Südkaukasus
Entscheidende Wende im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan nach fünf Wochen Krieg: Beide Seiten stimmten einem Abkommen zu, das die Entwicklung der Region auf lange Sicht bestimmen könnte.
Es sind tragische Tage in Jerewan. Premierminister Nikol Paschinjan hat nach fünf Wochen Krieg einer Vereinbarung mit Aserbaidschan und Russland zugestimmt, die seinem Land schwerwiegende Zugeständnisse abfordert. Auch Aserbaidschan stimmt Bedingungen zu, die es bislang abgelehnt hatte. Dies kann die Entwicklung in der Region auf Jahrzehnte bestimmen.
Die armenischen Streitkräfte müssen sich der Vereinbarung zufolge aus den umkämpften Gebieten zurückziehen, die sie seit den Neunzigerjahren als zusätzliche Sicherheitszone rund um Bergkarabach kontrolliert hatten. In diesen Bereichen hatten die aserbaidschanischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen erhebliche Landgewinne gemacht.
Besonders kritisch ist ein Landkorridor, der Armenien mit Bergkarabach verbindet und für die Versorgung wichtig ist: Diesen müssen die armenischen Streitkräfte bis auf einen fünf Kilometer breiten Streifen räumen. In Bergkarabach hatten bis vor dem Krieg 145.000 Armenier gelebt. Etwa 100.000 Menschen waren bereits in den vergangenen Wochen angesichts massiven Beschusses aus den Dörfern und Städten Stepanakert und Schuschi geflohen, die meisten nach Armenien.
Russland sichert sich militärische Kontrolle
1960 russische Soldaten sollen diese Verbindung als Friedenstruppe absichern. Sie sind bereits dabei, Stellung zu beziehen. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan hatten russische Friedenstruppen in und um Bergkarabach lange abgelehnt. Denn dadurch kann sich Russland militärische Kontrolle auf Jahrzehnte sichern - und damit Einfluss auf die gesamte Entwicklung in der Region.
Das Zugeständnis Aserbaidschans ist offensichtlich der Preis für einen anderen wichtigen Aspekt der Vereinbarung: Aserbaidschan erhielt die Zusage für einen seit Jahrzehnten geforderten Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan und damit eine Landverbindung zum Verbündeten Türkei. Dieser Korridor verläuft dann über armenisches Territorium. Wie genau dies gestaltet werden soll und wer ihn militärisch absichern wird, geht aus der Vereinbarung nicht hervor. Die Umsetzung birgt massiven Konfliktstoff.
Neben Russland will die Türkei an der Friedenssicherung beteiligt werden. Sie ist allerdings in dem Abkommen nicht genannt. Aber Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev erklärte, türkische Militärs würden zusammen mit russischen Vertretern in einem Friedenssicherungszentrum den Waffenstillstand kontrollieren. Kremlsprecher Dmitrij Peskow schloss allerdings aus, dass türkische Friedensschützer in Bergkarabach stationiert werden.
Deal zwischen Moskau und Ankara
Laut Medienberichten hatte es in den vergangenen Tagen eine intensivierte Abstimmung zwischen den Regierungen in Moskau und Ankara gegeben. Bislang übte Russland weitgehend allein Einfluss in der Region aus. Mit massiver militärischer Unterstützung seines Verbündeten Aserbaidschan verschaffte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan jedoch eine starke Position gegenüber seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Da Aserbaidschan allerdings nicht am Abkommen beteiligt war und viele Details offen blieben, ist fraglich, wie weit die Türkei ihre Interessen letztlich durchsetzen kann.
Russland hatte seit Ausbruch der Kämpfe am 27. September versucht, die beiden Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Drei Waffenstillstandsvereinbarungen hatte die russische Regierung zusammen mit Frankreich und den USA als Mitgliedern der Minsker Vermittlungsgruppe der OSZE ausgehandelt, die Armenien und Aserbaidschan jedoch praktisch in keinem Fall umsetzten.
Das jetzt vereinbarte Abkommen ist weit mehr als ein Waffenstillstand und seine weitgehende Umsetzung angesichts der entstandenen Lage wahrscheinlicher: Aserbaidschan erreichte mit Unterstützung der Türkei seine Ziele, die von Armenien kontrollierten Gebiete um Bergkarabach einzunehmen. Zudem gelang nun die Einnahme der Stadt Schuschi, die für Armenier und Aserbaidschaner von historisch und kulturell großer Bedeutung ist. Präsident Alijew kann mit diesem Sieg die enormen Opfer seines Landes rechtfertigen und zumindest eine Weile von der angespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage im Land ablenken.
Instabile Situation in Armenien
Armenien war nicht mehr in der Lage, der militärischen Übermacht seines Gegners Widerstand entgegen zu setzen. Ohne Waffenstillstand wären die Streitkräfte Bergkarabachs völlig aufgerieben und die letzten Gebiete von aserbaidschanischen Truppen eingenommen worden - so beschrieb der Präsident von Bergkarabach, Araik Harutjunjan, am Morgen die Lage. Nach 43 Tagen ununterbrochener Kämpfe seien die Soldaten erschöpft. Er sprach auch davon, dass sie durch Covid-19 geschwächt seien. Die Krankheit grassiert massiv in Armenien, auch weil sich ein Großteil der Bevölkerung nicht an Vorsichtsmaßnahmen hält und die Krankenhäuser überfüllt sind. Harutjunjan verwies jedoch darauf, dass Aserbaidschan durch die Unterstützung der Türkei zu einem übermächtigen Gegner geworden sei.
Angesichts der aussichtslosen Lage gab es wütende Proteste gegen die Entscheidung von Premier Paschinjan, die Friedensvereinbarung zu unterschreiben und das Ende des Krieges zu erklären. Auch ist die Furcht vor einer Vertreibung der Armenier aus ganz Bergkarabach groß. Denn es gibt zum Beispiel im Dokument keine Angaben zum Status von Bergkarabach.
Westeuropa und die USA ohne Einfluss auf die Region
Paschinjan selbst nannte das Abkommen "unaussprechlich schmerzhaft für mich persönlich und für unser Volk". Demonstranten stürmten in der Nacht den Regierungssitz und demonstrierten vor dem Parlament. Gestern hatten 17 radikalere Parteien den Rücktritt Paschinjans gefordert und sich einige Oppositionelle mit der Militärführung Gespräche abgehalten. Doch trifft dies bislang nicht auf großen Widerhall in der Bevölkerung. Die Zahl der Demonstranten blieb bei wenigen Hundert - und auch wenn viele Paschinjan eine Verantwortung für die Eskalation zum Krieg geben, sind viele gegen einen Regierungssturz, der politisches Chaos zur Folge hätte.
Da die Vereinbarung Konfliktstoff enthält und vieles offenlässt, ist fraglich, ob sich nun ein dauerhafter Frieden einstellt. Auch ist die innenpolitische Stabilität in allen Ländern der Region durch die Corona-Pandemie und Wirtschaftskrisen angespannt. Was das Abkommen sicher zeigt, ist, dass Russland und die Türkei die entscheidenden Akteure in der Region sind. Westeuropa und die USA haben derzeit keinen Einfluss und können die Lage für die Menschen im besten Fall durch humanitäre Hilfe lindern.