Nahost-Krieg UN-Kommissar sieht Anzeichen für Kriegsverbrechen
Der Terrorüberfall der Hamas auf Israel, die vielen Toten im Gazastreifen und die dramatische Versorgungslage Zehntausender infolge der israelischen Angriffe: UN-Menschenrechtskommissar Türk sieht Anzeichen für Kriegsverbrechen.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht Anzeichen für Kriegsverbrechen und womöglich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nahost-Krieg.
Er nennt auf der Seite der Palästinenser den Terrorangriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. und 8. Oktober, das wahllose Abfeuern von Geschossen auf Israel und das militärische Agieren aus zivilen Einrichtungen heraus.
Aber auch das Vorgehen Israels sieht Türk kritisch: "Wenn man sich anschaut, wie Israel darauf reagiert hat, da habe ich schwere Bedenken, was die Einhaltung sowohl der Menschenrechte als auch des internationalen humanitären Rechts betrifft", sagte der UN-Kommissar der Nachrichtenagentur dpa in Genf.
Vor allem Frauen und Minderjährige betroffen
Türk rief Deutschland und andere Staaten auf, von Israel die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu fordern und die Vereinten Nationen gegen massive Kritik auch aus israelischen Regierungskreisen klar zu verteidigen. Bei den schweren israelischen Bombardierungen seien 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Minderjährige. "Man kann davon ausgehen, dass der Großteil von denen, die getroffen worden sind, Zivilisten sind", sagte Türk. "Darüber hinaus ist eine kollektive Bestrafung der Palästinenser ein Kriegsverbrechen. Natürlich müssen letztlich Gerichte beurteilen, wer welche Straftaten begangen hat."
Ob es dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt, sei schwer zu beurteilen. Damit sind zum Beispiel großangelegte oder systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung gemeint. Um das zu beurteilen, müsse auch untersucht werden, ob dahinter eine entsprechende Absicht stehe.
"Schwere Bedenken"
Nach Angaben von Türk gibt es Anzeichen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sein könnten: "Angesichts der unverhältnismäßigen und sehr schweren Bombardierungen, in Kombination mit dem Mangel an wirksamer humanitärer Hilfe gibt es schwere Bedenken, die näher geprüft werden müssen." Sein Büro dokumentiere Menschenrechtsverletzungen, die bei künftigen Prozessen relevant werden dürften, sagte Türk.
Das UN-Menschenrechtsbüro, das Türk leitet, verlangt die Freilassung der aus Israel verschleppten Geiseln, ein Ende der ziellosen Angriffe seitens der islamistischen Hamas, ein Ende der israelischen Bombardierungen sowie ausreichenden Zugang für humanitäre Hilfe. Israel lässt nur eine begrenzte Anzahl von Lastwagen in das Gebiet, und humanitäre Organisationen sagen, eine systematische Verteilung sei wegen der dauernden Bombenangriffe nicht möglich.
Israel weist Vorwürfe zurück
Zuletzt waren die Vorwürfe gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen angesichts der vielen Todesopfer unter der Zivilbevölkerung lauter geworden. "Die israelische Regierung setzt das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung im besetzten Gazastreifen ein, was ein Kriegsverbrechen darstellt", befand etwa die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) Mitte Dezember vor einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats zum Nahost-Krieg. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bemängelte einen "entsetzlichen Mangel an Differenzierung" und verwies auf die Tötung von Gläubigen während des Gebets sowie die versehentliche Erschießung israelischer Geiseln durch die israelische Armee.
Israel warf der Menschenrechtsorganisation in einer Reaktion Antisemitismus vor. Diese sei eine "antisemitische und anti-israelische Organisation", erklärte die israelische Regierung. HRW habe die Angriffe der islamistischen Hamas auf israelische Bürger am 7. Oktober nicht verurteilt und habe "keine moralische Grundlage, um darüber zu sprechen, was in Gaza passiert, wenn sie die Augen vor dem Leid und den Menschenrechten der Israelis verschließen", sagte Außenministeriumssprecher Lior Haiat.
Doch auch die US-Regierung hatte Israel zuletzt immer eindringlicher ermahnt, Zivilisten im Gazastreifen stärker zu schützen.
Strafgerichtshof ermittelt seit 2021 gegen Hamas und Israel
Anfang Dezember hatte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Karim Khan, Israel und die palästinensischen Gebiete besucht und sich für Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen auf allen Seiten des Nahost-Kriegs eingesetzt. Fundierte Beschuldigungen über mutmaßliche Kriegsverbrechen müssten unabhängig und schnell geprüft werden.
Der Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag ermittelt bereits seit 2021 gegen die Hamas und Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen. Palästina ist seit 2015 Vertragsstaat. Das Gericht hatte 2021 festgestellt, dass es auch für die seit 1967 besetzten Gebiete wie das Westjordanland und den Gazastreifen zuständig ist. Israel erkennt das Gericht nicht an.