Kipppunkt Ozeanströmung Zu viele Untergangsszenarien?
Die nordatlantische Umwälzzirkulation könnte kippen, hieß es zuletzt häufig. Aber was genau bedeutet das? Was ist eigentlich ein Kipppunkt? Und ist es angemessen, dass so viel darüber gesprochen wird?
Viel wurde bisher spekuliert, wann genau die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation, kurz AMOC genannt, kippen könnte. Denn dieser sogenannte Kipppunkt könnte das Klima in Europa und vielen anderen Teilen der Welt radikal ändern.
Kipppunkte gelten als Schwellenwerte: Sind die erreicht, kommt es zu starken und teils unaufhaltsamen Veränderungen - so wie zum Beispiel der letzte Tropfen ein Fass zum Überlaufen bringt.
Ozeanströmung kann kippen
Der Klimaphysiker René van Westen von der Universität Utrecht konnte in einem Modell gemeinsam mit anderen Forschenden nun erstmals realistisch zeigen, dass es sich bei der AMOC überhaupt um ein Kippelement handelt, also dass sie tatsächlich kippen kann. "Das ist also ist ein sehr wichtiger Durchbruch, den wir mit unserer Studie erzielt haben", sagt er zu den Daten, die in der Fachzeitschrift "Science Advances" veröffentlicht wurden.
Ähnlich schätzt es auch der Ozeanograph Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg ein, der nicht an der Studie beteiligt war: "Der Kipppunkt ist hier in einem Modell einer Güteklasse nachgewiesen worden, wie wir das vorher noch nicht gesehen haben."
Denn es gab zwar vorher schon einzelne kleinere Studien, die gezeigt haben, dass die AMOC kippen kann. Aber diese hatten meist wichtige Elemente nicht berücksichtigt. Bestimmte andere Strömungen zum Beispiel, die das System stabilisieren könnten, wodurch es gar nicht zum Umkippen kommen könnte.
Dominoeffekt im Klimasystem
Ein halbes Jahr lang hat Wissenschaftler van Westen mit seinen Kolleginnen und Kollegen dieses Modell auf Hochleistungsrechnern laufen lassen. Sie modellierten auch, was passiert, wenn der Punkt erreicht ist. Das Ergebnis: sozusagen ein Dominoeffekt. Denn auch andere Kipppunkte könnten vom Umkippen der AMOC betroffen sein.
So könnten sich zum Beispiel Regen- und Trockenzeiten im Amazonas in der zeitlichen Abfolge vertauschen. Und es könnte - auch in anderen Gebieten - zu deutlich weniger oder auch mehr Regen kommen.
Die Änderungen wären besonders für Europa sehr groß, meint van Westen. Es gäbe zum Beispiel im Winter im Atlantik viel mehr Meereis als heute. "Das geht bis hinunter nach Südengland", sagt er. In Westeuropa soll es im Schnitt laut dem Modell bis zu zehn Grad kälter werden als heute.
Zu viel Eis
Ob diese gravierenden Änderungen tatsächlich so eintreffen könnten, daran gibt es allerdings auch Zweifel. Wissenschaftler Marotzke schätzt die Studie zwar als Meilenstein ein, was das Aufzeigen eines möglichen Kipppunkts angeht. Das zukünftige Klima würde dadurch allerdings gar nicht sinnvoll simuliert, sagt der Ozeanograph. Denn die Simulation gehe so: "Es wird das vorindustrielle Klima genommen, und sehr langsam wird Süßwasser in den Nordatlantik gekippt. Als ob Grönland abschmelzen würde. Aber Grönland schmilzt nicht in dieser Simulation."
Denn die weltweit herrschenden Temperaturen werden gar nicht an die zukünftig zu erwartenden angepasst. Unter zukünftigen Klimabedingungen werden jedoch auch die Temperaturen immer weiter ansteigen. Die Folge: Es gäbe gar nicht so viel Eis, wie in der Studie simuliert.
Die Studie geht außerdem davon aus, dass die Labradorsee im Winter komplett zugefroren ist. Das traf jedoch schon zu vorindustriellen Zeiten nicht zu. "So ist der Ozean nicht. Und so war er auch vor 100 Jahren nicht oder vor 200 Jahren. Und das heißt, dieses Modell hat viel zu viel Eis", sagt Marotzke.
Durch weniger Eis gäbe es in der Folge nicht so große Temperaturänderungen in Europa. "Ohne Eis würde man eher eine Abkühlung um vielleicht drei Grad sehen, aber nicht zehn oder 15 Grad", sagt Marotzke.
Unklare Zeiträume
Auch ob und wann die Zirkulation wirklich kippen könnte, kann die Studie nicht voraussagen. Der Weltklimarat IPCC ist in seinem letzten Bericht noch davon ausgegangen, dass die AMOC mit hoher Sicherheit nicht vor Ende des Jahrhunderts zusammenbrechen wird.
Diese Einschätzung hat auch die Studie erst einmal nicht verändert, so die Forschenden. Dafür müssten die Temperaturen erst einmal den zukünftig zu erwartenden angepasst werden. Ein entsprechendes Modell dafür läuft gerade, sagt Wissenschaftler van Westen.
Komplexes Klimasystem
Insgesamt hält Marotzke den Fokus in der gesellschaftlichen Klimadiskussion auf die Kipppunkte für wenig zielführend. Denn Kipppunkte werden oft als Wegmarken für eine unumkehrbare Entwicklung wahrgenommen. Doch manche Kippelemente ließen sich auch wieder zurückverwandeln, wenn beispielsweise die Temperaturen durch Klimamaßnahmen wieder sinken.
Zusätzlich hält der Ozeanograph das Klimageschehen auch für zu komplex, um es an vereinfachten Modellen wie Kippelementen und Kippsystemen festzumachen.
Kritik an Fokus auf Kipppunkte
Auch in der öffentlichen Wahrnehmung nimmt das Thema seiner Meinung nach zu viel Raum ein. Denn viel wahrscheinlicher, als dass es zu Kipppunkten kommt, ist, dass andere Folgen des Klimawandels eintreten. Und die lassen sich auch besser voraussagen. "Für mich ist das Musterbeispiel die Katastrophe im Ahrtal, die ja nicht deswegen so schlimm war, weil der Klimawandel da war, sondern weil es praktisch keine Vorsorge gab und keine Warnsysteme. Und meine Befürchtung ist, dass die Diskussion dieser eher exotischen Kipppunkte, dass die dazu führt, dass wir die naheliegenden Gefahren, die aber da sind und die auch mit hoher Wahrscheinlichkeit zuschlagen, dass wir die aus dem Auge verlieren", so Marotzke.
Und auch Studienautor van Westen selbst findet es wichtig, beim Diskutieren der Kipppunkte die vielen schon bekannten Folgen des Klimawandels nicht aus den Augen zu verlieren. "Dies ist nur eine kleine Studie auf dem riesigen Haufen von Beweisen, die bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel aufgetaucht sind. Und sie fügt ein weiteres Untergangsszenario hinzu, von dem wir uns fernhalten müssen", so der Klimawissenschaftler. Auch wenn andere Folgen des Klimawandels viel wahrscheinlicher und unmittelbarer wären, sei ein Kippen der AMOC aber mit so starken Konsequenzen verbunden, dass diese unbedingt verhindert werden sollte.