Klinik in New York Wie KI im Krankenhaus hilft
Mangelernährung, Delirium, Krebs - bei all diesen Diagnosen bekommen die Ärzte in einem New Yorker Krankenhaus Unterstützung von künstlicher Intelligenz. So sollen die Patienten besser versorgt und die Ärzte entlastet werden.
"Der Patient hat eine rote Flagge" - Diätberaterin Ciana Scalia steht mit ihrer Chefin Sara Wilson vor einem blinkenden Monitor auf einer Krankenstation des New Yorker Mount Sinai Hospitals. Rote Flagge auf dem Bildschirm, das deutet auf einen Fall von Fehlernährung hin. Der Computer hat meistens recht. Er spuckt seine Diagnose aus, ohne dass die beiden etwas Bestimmtes eingeben mussten. "Das Programm reimt sich den Verdacht aus allen Indikatoren zusammen, die er in den Krankenakten und der Geschichte des Patienten finden kann", erklärt Scalia. Künstliche Intelligenz habe automatisch die Ernährung aller eingelieferten Patienten in diesem renommierten Krankenhaus in East Harlem im Blick.
Schneller und präziser
Seit fünf Jahren hilft KI dem medizinischen Personal dabei, Ernährungsmängel bei Patienten zu erkennen, einen Ernährungsplan für sie zu entwickeln und ihre Genesung damit unter Umständen schneller voranzutreiben. Ein Prozedere, das auf konventionellem Weg viel zeitraubender und bürokratischer sein würde, erklärt die Direktorin der Ernährungsabteilung, Wilson. "Wir mussten früher selbst erstmal die Gewichtskurven studieren, die Ernährungsgewohnheiten, Laborergebnisse und vieles mehr - um einen Ernährungsplan zu entwickeln, damit Patienten sich schnell erholen."
Das würde jetzt die KI erledigen - und zwar im Schnellverfahren. Und noch dazu viel präziser als es vorher möglich war, erklärt Scalia. "Der Algorithmus kann Dinge finden, von denen wir als menschliches Personal nicht einmal wissen, dass wir nach ihnen suchen sollten", sagt sie. "Weil wir gar nicht soviel Zeit hätten."
Scalia kümmert sich um die optimale Ernährung der Patienten - mithilfe der KI.
Maschinen lernen dazu
Fünf Jahre nach Beginn des Modellversuchs filtert ihr Team bereits drei Prozent mehr Patienten mit Mangelernährung heraus als vorher. Das System verbessere sich ständig, sagt Wilson. "Momentan liegt die Genauigkeit bei bis zu 70 Prozent. Aber die Maschinen lernen ja auch noch." Sie müssen ständig gefüttert werden, mit Daten und mit der Intelligenz des Menschen.
Die künstliche Intelligenz arbeite also stets zusammen mit Spezialisten der Klinik. Sie prüften die Computer-Information und speisten die Maschine zugleich mit ihrem Wissen. Der gläserne Patient ahne allerdings nicht, was das Programm mit seinen Daten mache. Er sieht keine rote Flagge. Er merkt nur, wenn ihn Ernährungsfachfrau Scalia im Krankenzimmer kontaktiert.
Doch Klinikdirektor David Reich sieht darin kein Problem: "Dass wir das ohne das Wissen der Patienten checken, ist in Ordnung. Denn du gibst den Patienten damit ja nur die richtige Hilfe zur richtigen Zeit." Das sei Ziel der rund 20 Programme, mit denen sich das älteste Lehr-Krankenhaus der USA zum KI-Spitzenreiter in New York und weiten Teilen der USA mache, sagt Reich. "Wir begannen mit dem Programm zur Fehlernährung, die in Kliniken oft unerkannt bleibt. Dann einem zur Früherkennung von einem Delirium. Ein anderes Programm berechnet das Sturzrisiko von Patienten."
Zeitersparnis für Ärzte und Pfleger
Die Zahl der eingesetzten und inzwischen profilierten Programme wachse ständig - ohne, dass deswegen menschliches Personal abgebaut werde, betont Reich. Vor acht Jahren gründete sich an der Klinik, die größer als die Berliner Charité ist, ein Team mit einem Namen, über den der Direktor selber scherzt: "The Little Big Data Group."
Ihre Aufgabe: ein System von Algorithmen zu entwickeln, das menschliches Personal nicht ersetzt, sondern es unterstützt und ihm viel Zeit spart. Unter Umständen lebensrettende Zeit, betont der Neurowissenschaftler Joseph Friedman. Er hat an der Klinik vor zehn Jahren ein KI-Programm entwickelt, das Alarm schlägt, bevor ein Patient ins Delirium verfällt und dadurch zum akuten Notfall wird - etwa nach einer Operation. Das Syndrom des umgangssprachlich bekannten "Fieberwahns" sei sehr komplex zu diagnostizieren. Es sei oft schwer zu erkennen, wenn der Patient seine Fähigkeit zu denken verliere, nicht mehr wachbleiben könne, sich erheblich anders verhalte als gewöhnlich.
Das Problem in fast allen Krankenhäusern sei, dass dieses Syndrom oft nicht rechtzeitig behandelt werde. Weil es eben auf klassischem Weg so schwer vorhersehbar sei. Die Mortalitätsrate sei entsprechend hoch. Mithilfe des KI-Programms sei es aber nicht nur möglich, ein Delirium schnell zu erkennen, sondern das Programm schlage auch gleich einen Behandlungsplan vor.
Konzentrieren auf Risikofälle
Friedman erinnert sich, wie anders es war, bevor es das Programm gab. "Wir haben vielleicht 100 Patienten am Tag untersucht, nur um vier bis fünf Menschen mit der Diagnose Delirium auszumachen." Dazu mussten Unmengen von Daten studiert werden. Jeder Patient musste persönlich untersucht werden. Dabei sei unter Umständen wertvolle Zeit für akute Notfälle verloren gegangen.
Dank der künstlichen Intelligenz sei es nun möglich, sich direkt auf die Patienten mit dem höchsten Risiko zu konzentrieren. Friedman betont: Es gehe nicht darum, den Medizinern Zeit zu sparen, sondern es gehe darum, dass sie schneller dort sein können, wo sie am Dringendsten gebraucht werden.
Regulierung und Überprüfung
Klinikdirektor Reich ist überzeugt davon, auf dem richtigen Weg zu sein. "Wenn du eine sicherere Krankenhausumgebung schaffst, wo Fehlernährung gleich mitbehandelt wird und dadurch eine Wunde schneller heilt, wo ein drohendes Delirium erkannt wird oder die Gefahr, dass ein Patient stürzen könnte - all das macht es für die Patienten nur besser."
Künstliche Intelligenz, meint er, verändere nicht nur die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte - sie erfordere auch ein Umdenken in der Ausbildung von Medizinern. Allerdings räumt Reich auch ein: Je weiter die künstliche Intelligenz reife, desto wichtiger sei es, sie zu regulieren. Es gebe in den USA beispielsweise das Problem des strukturellen Rassismus. Das dürfe nicht von der KI übernommen werden.
"Ärmere US-Bürger, die in der Mehrzahl schwarz, hispanisch oder indigen sind - sie haben alle weniger Zugang zu medizinischer Hilfe. Wenn du also deine Algorythmen mit existierenden Patienten-Daten fütterst, riskierst du, dass sie die Voreingenommenheit unseres medizinischen Systems übernehmen", erklärt Reich.
Wenn das Programm zur Vorhersage von Fehlernährung also nicht so gut bei Afro- und Lateinamerikanern funktioniert, dann müsse daran gearbeitet werden. Im Mount Sinai-Krankenhaus haben sie für solche Fragen ein Ethik-Komitee gegründet. Alle KI-Programme werden dort regelmäßig auf Krankheiten untersucht.
Unscheinbar, aber sehr wichtig: das KI-Labor des Krankenhauses.
Programm zur Krebsdiagnose
Rund 400 KI-Systeme im Klinikbereich haben die Kontrollbehörden in den USA schon zugelassen, erklärt Thomas Fuchs, Direktor des Hasso Plattner Instituts für digitale Medizin - eine Dependance des Potsdamer Instituts am Mount Sinai Hospital. Der gebürtige Grazer ist Herr über das KI-Labor, das viele Daten zugeliefert bekommt: Im gesamten System der Klinik und angegliederten Praxen mit fast 4.000 Betten und rund 7.400 medizinischen Mitarbeitern gibt es im Jahr rund 135.000 Einlieferungen - die Notaufnahme und die über 3,8 Millionen ambulanten Patienten nicht mitgerechnet.
Das "Lab" ist ein Meer von rauschenden Computern in einem unspektakulär wirkenden hellen Raum. Hier schlägt das Herz der künstlichen Intelligenz in diesem Krankenhaus. Der ehemalige NASA-Forscher Fuchs entwickelt mit seinem Team ein Programm zur Krebserkennung. Stolz steht er vor der dumpf rauschenden Anlage und strahlt: "Wir haben einen eigenen Supercomputer gebaut - den größten der Welt für die Pathologie -, haben Millionen von Schnitten digitalisiert und haben dann über viele Monate künstliche Intelligenz trainiert, die gut genug ist, dass sie wirklich für jeden Patienten hilfreich sein kann."
Sie könne das etwa indem sie Krebsarten erkennt, definiert und Behandlungswege aufzeichnet. Das Programm sehe oftmals besser, als ein Arzt allein das tue. "Es kann zum Beispiel genetische Mutationen des Krebses vorhersagen, basierend auf dem Aussehen des Krebses, sagt Fuchs. "Und das hilft dann Patienten überall auf der Welt - nicht nur in diesen Elfenbein-Instituten - wirklich den Zugang zu der besten Diagnose zu bekommen."
Fuchs forscht zu KI in der Medizin und hat die KI-Entwicklung in New York maßgeblich mitgestaltet.
Kritik an Regulierung in Europa
Die mache am Ende immer der Mensch. Die KI unterstütze ihn dabei. Fuchs warnt vor Panik. Der Datenschutz sei eine wichtige Frage, aber: Genauso müsse der hilfebedürftige Patient geschützt werden. Die Einschränkung der Forschung führe zu schlechterer Behandlung und weniger Technologie - und auch das Zurückfallen europäischer Forschungseinrichtungen in diesem Bereich.
In vielen europäischen Ländern lasse zum einen die Förderung der Wissenschaft zu wünschen übrig. "Österreich gibt etwa genauso viel für die KI-Forschung aus wie Uganda", sagt Fuchs. Bei der Regulierung hingegen übertrieben es europäische Länder. "Natürlich braucht KI im Gesundheitswesen eine Regulierung, aber auf der andern Seite darf man natürlich die Forschung nicht zu sehr behindern, indem man es sehr schwierig macht, auf der Basis von Patientendaten zu forschen."
Es sei kein Zufall, dass das Potsdamer Institut mit amerikanischen Daten forsche statt in Berlin oder Brandenburg. Das bedeute dann auf der anderen Seite ganz einfach, dass die deutschen Systeme nicht optimiert werden könnten, da sie ja nicht Teil dieser Studie seien. Es sei eine Frage der Ethik, dass die Wissenschaft tue, was sie könne, sagt Fuchs: "Eins ist sehr klar heutzutage, wenn man über die Ängste vor KI redet: In der Medizin sterben Patienten, weil es keine KI gibt, nicht weil es KI gibt."