Währungskrise und hohe Inflation Hoffnung auf einen neuen Wirtschaftskurs der Türkei
Jahrelang hielt der türkische Präsident Erdogan an seiner umstrittenen Zinspolitik fest - trotz Wirtschaftskrise und extremer Inflation. Nun erwarten Experten eine drastische Erhöhung der Leitzinsen.
Etwa eine Stunde vom Zentrum Istanbuls entfernt liegt der Industriepark TAYSAD. Gegründet 2003, buchstäblich aus dem Sandboden gestampft. Nun gibt es dort fast alles: 90 Industriebetriebe, Kindergärten, Schulen, eine Anbindung an die Autobahn und sogar eine Feuerwehr. In drei Schichten wird gearbeitet, rund ein Prozent des türkischen Exports wird von dort abgewickelt.
"Alles ist durcheinander"
Der Vater von Alper Kanca, der in Österreich studiert hat und fließend Deutsch spricht, hat dieses Zentrum der Industriezulieferer aufgebaut - und dann seinem Sohn übergeben. Lange war Kanca dann selbst Präsident des Türkischen Verbands der Autozulieferer (TAYSAD), nun hat er die Geschäfte an seinen Nachfolger abgegeben. Er ist aber immer noch im Vorstand.
Kanca macht sich Sorgen um die türkische Wirtschaft. "Alles ist gerade durcheinander. Das ist eine Tragödie", sagt er im ARD-Interview. Vor allem die stark steigenden Löhne und die Inflation belasten seinen Unternehmensverband. Indirekt macht er die Politik dafür verantwortlich. Die vergangenen sechs Monaten seien eine "schwierige Phase" gewesen, da war Wahlkampf und für Wahlgeschenke sei viel Geld ausgegeben worden. Nun setzt Kanca Hoffnung in die Politik der neuen Regierung.
Neue Hoffnungsträger
Vor allem auf zwei Personen ruhen die Hoffnungen. Sie sollen die türkische Wirtschaft sanieren. Da ist zum einen die international erfahrene Finanzexpertin Hafize Gaye Erkan, die neue Chefin der türkischen Zentralbank mit gerade einmal 44 Jahren. Ihre berufliche Laufbahn ging bisher nur in eine Richtung: nach oben. Als eine der ersten Frauen schaffte sie es sie in den USA in die Chefetage der First Republic Bank, später dann in die Führungsriege der Investmentbanker von Goldman Sachs.
Und dann ist da Mehmet Simsek, ein Finanzprofi. Er ist der starke Mann, Finanzminister in der neuen Regierung des türkischen Präsidenten Erdogan. Simsek kehrt nach fünf Jahren in die erste Reihe zurück. Bis Sommer 2018 war er in der türkischen Regierung erst Wirtschafts-, dann Finanzminister, zuletzt sogar stellvertretender Regierungschef. Einer, der Präsident Erdogan auch mal widerspricht. Nun hat Erdogan Simsek zurückgeholt, kündigt "schnelle Maßnahmen" an.
Sein neuer Finanzminister Simsek spricht nun von strikter Haushaltsdisziplin und dem Ziel einer einstelligen Inflationsrate. Heißt das, dass er sich von seiner unorthodoxen Zinspolitik verabschieden will? Kanca, der Wirtschaftsboss, ist guter Dinge. "Es muss nun gemacht werden. Und wir haben Vertrauen zu Herrn Simsek. Er ist kein Wunderkind, aber wenn er nach den Regeln spielt, werden wir zumindest Klarheit haben, auch wenn es wehtut", sagt er stellvertretend für 80 türkische Unternehmen.
Weg von der Niedrigzinspolitik?
Westliche Zentralbanken, die amerikanische Federal Reserve und die Europäische Zentralbank bekämpfen Inflation mit höheren Zinsen. In der Türkei ist die Inflation auf höchstem Niveau. Offiziell beträgt sie im Mai rund 39,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Experten vermuten sie um ein Vielfaches höher. Viele Menschen können sich den Alltag mit den ständig steigenden Preisen kaum mehr leisten. Auch deshalb hat die türkische Regierung Anfang der Woche den Mindestlohn um 34 Prozent angehoben, auf 11.400 türkische Lira, rund 460 Euro. Rund 40 Prozent der Bevölkerung lebt derzeit vom Mindestlohn.
Selbst Erdogans Koalitionspartner Devlet Bahceli, der Vorsitzende der rechtsnationalen MHP, sprach sich im Vorfeld für höhere Zinsen aus, auch wenn das "schmerzhaft" sei. Offenbar soll die Finanzpolitik im der Türkei neu justiert werden.
Widersprüchliche Signale von Erdogan
Präsident Erdogan sagte im Vorfeld der Zentralbank-Sitzung, er sei entschlossen, die Inflation in den einstelligen Bereich zu drücken. Er werde aber an seiner Politik der "niedrigen Inflation und niedrigen Zinsen" festhalten. Dies habe er der neuen Zentralbankchefin mitgeteilt. "So Gott will, werden weder unser Finanzminister noch unsere Zentralbankgouverneurin uns in Verlegenheit bringen", sagte Erdogan. "Ich denke, wir werden hoffentlich positive Ergebnisse erzielen."
Es könnte also zu Konflikten zwischen den Wirtschaftspolitikern und der Regierung kommen, falls die jetzigen Maßnahmen nicht greifen. Dann könnte Erdogan auch wieder andere dafür verantwortlich machen. Denn im Frühjahr 2024 stehen wichtige Kommunalwahlen an. Die will Erdogan unbedingt gewinnen, und dafür braucht er einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Zinspolitik hat Währungskrise ausgelöst
Die bisherige Zinspolitik hat eine Währungskrise ausgelöst. Die Landeswährung Lira verlor 2021 um 44 Prozent an Wert und 2022 nochmal 30 Prozent. In den vergangenen drei Monaten beschleunigte sich dieser Abwärtstrend noch einmal, um 25 Prozent stürzte die Währung ab.
Das verschärft die Wirtschaftskrise, weil das rohstoffarme Land viele Waren aus dem Ausland bezieht und diese in Devisen bezahlen muss. Die Behörden haben daher die Reserven der Zentralbank angezapft, um die Währung zu stabilisieren. Außerdem stützten einige arabische Länder die Lira, allerdings nur bis zur Stichwahl.
Banken geben kaum noch Kredite
Zurück im Wirtschaftspark der Automobilzulieferer: Hier zeigt man sich zufrieden mit der erwarteten Zinserhöhung. Sagt aber, dass diese nur ein erster Schritt sein könne. Solange die Inflation hoch sei, müssen auch die Zinsen weiter steigen. Denn: Die Banken geben aktuell zum Marktzins kaum mehr Kredite.
"Die Kreditzinsen waren sehr niedrig, aber es waren keine Kredite da. Und wenn sie keine Kredite nehmen können, können sie nicht weiterleben", sagt Alper Kanca. Er hofft auf eine neue Wirtschaftspolitik. Und dass Erdogan seinen Finanzminister und die neue Notenbankchefin in Ruhe ihren Job machen lassen.