Gemüsehändler in Istanbul

Nach Wiederwahl Erdogans Zweifel an gesunkener türkischer Inflation

Stand: 05.06.2023 15:03 Uhr

Die Inflation in der Türkei soll unter 40 Prozent liegen. Experten bezweifeln jedoch die offiziellen Zahlen, einige setzen nun große Hoffnungen in den neuen Finanzminister Simsek - zu Recht?

Von Angela Göpfert, ARD-Finanzredaktion

In der Türkei hat sich die hohe Inflation im Mai offiziellen Angaben zufolge weiter abgeschwächt. Im Jahresvergleich zogen die Verbraucherpreise dem Statistikamt in Ankara zufolge um 39,6 Prozent an. Damit lag die Teuerungsrate erstmals seit 16 Monaten wieder unter der 40-Prozent-Marke. Im vergangenen Oktober hatte die offizielle Inflationsrate mit 85,5 Prozent noch einen 24-Jahres-Rekord erreicht, seither ist sie rückläufig.

Experten hegen Zweifel an offizieller Lesart

Unabhängige Experten bezweifeln jedoch die offiziellen Inflationsdaten, hatte doch Staatschef Recep Tayyip Erdogan bereits vor seiner Wiederwahl im Mai zahlreiche Personalwechsel im Statistikamt per Präsidialdekret veranlasst. So geht etwa die in Istanbul ansässige Inflations-Forschergruppe Enag von einem deutlich höheren Mai-Inflationswert von 105 bis 109 Prozent aus.

Für Marktbeobachter kommt der Rückgang der offiziellen Inflationsrate in der Türkei derweil wenig überraschend. Sie verweisen auf die künstliche Lira-Stabilisierung in den Monaten vor der Präsidentschaftswahl.

Importierte Inflation wegen schwacher Lira

"Weil diese Wechselkurspolitik nicht nachhaltig ist, sondern nur der Verschleierung der unterliegenden Lira-Schwäche im Vorfeld der Wahl diente, ist auch die Inflationsreduzierung nicht nachhaltig", warnt Ulrich Leuchtmann, Devisen-Analyst der Commerzbank.

In der vergangenen Woche war der Wechselkurs der Lira zu Dollar und Euro auf historische Tiefstände gefallen. Die schwache Lira verteuert Importe in die Türkei und heizt so die Inflation an, Experten sprechen daher auch von einer "importierten Inflation".

Wie Erdogan die Lira schwächt

Warum aber ist die Lira so schwach? Fachleute erklären die anhaltende Talfahrt der türkischen Landeswährung vor allem mit der absurd lockeren Geldpolitik der heimischen Notenbank, die nach mehreren Personalwechseln an der Spitze de facto auf Erdogans Geheiß handelt.

Entgegen aller ökonomischen Logik hatte der türkische Präsident die Notenbank angesichts der hohen Inflation wiederholt zu Zinssenkungen gedrängt und so die Teuerung - für Ökonomen völlig erwartungsgemäß - nur noch weiter angeheizt.

Türkische Notenbank hat ein Glaubwürdigkeitsproblem

Ganz nebenbei ruinierte Erdogan dadurch auch die Glaubwürdigkeit der türkischen Zentralbank und schwächte so die Lira zusätzlich. Die Märkte sind mittlerweile überzeugt, dass die türkische Notenbank nur eine Marionette Erdogans ist.

Bereits 2018 hatte Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman vor einer "Todesspirale" für die türkische Wirtschaft gewarnt. Als mögliche Auslöser nannte er damals explizit auch inländische Ereignisse wie etwa wiederholte Angriffe auf die Unabhängigkeit der heimischen Notenbank.

Simsek will "rationale" Geldpolitik

Die Hoffnungen vieler Marktbeobachter richten sich nun auf Mehmet Simsek. Erdogan hatte den erfahrenen Ökonomen am Wochenende zum Finanzminister ernannt. Simsek wird mit den Worten zitiert: "Die Türkei hat keine andere Wahl, als zu einer rationalen Politik zurückzukehren."

Das lässt viele Experten aufhorchen, bedeutet diese Aussage im Umkehrschluss doch, dass die bisherige Geldpolitik "irrational" war. Commerzbank-Analyst Leuchtmann ist dennoch nur verhalten optimistisch: "Natürlich hoffe ich, dass Simsek den Präsidenten davon überzeugen kann, dass eine wirkliche, nachhaltige Wende zu rationaler Geldpolitik erfolgen muss. Aber allein Simseks Ernennung kann nicht Anlass sein, das zu prognostizieren." Tatsächlich bleibt abzuwarten, inwieweit Erdogan seinem neuen Finanzminister überhaupt freie Hand lassen wird.

Lira auf neuem Rekordtief

Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass die Reaktion der Devisenmärkte auf die Ernennung Simseks extrem skeptisch ausfällt, von Vorschusslorbeeren fehlt jegliche Spur: Die türkische Lira gibt zu Wochenbeginn weiter nach und markiert zum Dollar ein neues Rekordtief. In der Spitze müssen für einen Dollar nunmehr 21,21 Lira gezahlt werden. Zum Vergleich: Vor fünf Jahren waren es noch 4,46 Lira.

Das neuerliche Rekordtief der Lira zeigt: Die Märkte wollen endlich Taten sehen. Sie wollen eine Notenbank, die unabhängig agiert und den Kampf gegen die Inflation mit anhaltenden Zinserhöhungen ernsthaft aufnimmt. Auf Beteuerungen, Willensbekundungen und vage Hoffnungsschimmer geben sie nach den Erdogan-Erfahrungen der vergangenen Jahre gar nichts mehr.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 05. Juni 2023 um 13:35 Uhr.