Satellitenbild des nächtlichen Europas mit erleuchteten Städten
Analyse

Folge des Ukraine-Kriegs Europas Wirtschaftsmodell in Gefahr

Stand: 04.04.2022 11:20 Uhr

Europas Wirtschaftswachstum basiert seit langem auf billigen Rohstoffen und billiger Energie. Dieses Modell wird durch die Folgen des Ukraine-Kriegs in Frage gestellt. Welche Konsequenzen hat das?

Es ist seit Jahrzehnten ein steter Weg nach oben. Das Wirtschaftswachstum in den Staaten der Europäischen Union kannte nach dem Ende des Kalten Krieges im Grunde nur eine Richtung: aufwärts. Einbrüche hat es gegeben: durch das Platzen der Internetblase Anfang des Jahrtausends, vor allem aber durch die internationale Finanzkrise ab 2008 und dann durch Corona. Doch immer haben sich die Staaten erholt, haben sich Konjunktur und Beschäftigung stabilisiert. Es ging immer wieder weiter - und das trotz erheblicher Schuldenberge in manchen Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien.

Erholung hatte man auch jetzt - nach Corona - wieder erwartet. Doch der Krieg in der Ukraine verändert alles. Dieser Krieg bedrohe die globale Sicherheit und die gesamte Weltwirtschaft, sagt EU-Ratspräsident Charles Michel. Doch nicht nur das: "Der Krieg in der Ukraine stellt auch unser Wirtschaftsmodell in Frage", meint Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Dieses Wirtschaftsmodell hatte bisher einen entscheidenden Stützpfeiler: vergleichsweise günstige Energie und vergleichsweise günstige Rohstoffe, Steine, Erden, Minerale oder Metalle.

Billige Rohstoffe und Energie als Grundlage

"Diese billigen Rohstoffe, Brennstoffe, werden in vielzähligen industriellen Prozessen genutzt und dann natürlich auch für den Export genutzt", erklärt Guntram Wolff von der politökonomischen Denkfabrik Bruegel in Brüssel. Für die Autoindustrie, den Maschinenbau, Chemieprodukte. Was dem Grundprinzip folgt: billiger Rohstoff rein, damit hergestelltes hochwertiges Produkt raus.

Nicht in allen EU-Staaten funktioniert das gleich gut, aber in vielen - vor allem in den wirtschaftlich starken und besonders in Deutschland. Das hat jahrzehntelang den Wohlstand gesichert, Wachstum und Beschäftigung und das bei weitgehend stabilen Preisen. Das ist eigentlich ein Idealzustand für die Gesellschaften. Ein Risiko wurde dabei aber immer ausgeblendet: dass Energie und Rohstoffe irgendwann auf einmal unglaublich teuer werden, weil man sie selbst ja gar nicht hat, weil man sie importieren muss. Das war in dem Modell nicht vorgesehen, jetzt ist es Realität.

Wohlstandsverluste unvermeidbar

"Eins ist klar: Die Preise für diese Rohstoffe, für Öl und Gas werden für einige Zeit so teuer bleiben, vielleicht wird es sogar zu Knappheiten, zu Engpässen kommen", sagt der Ökonom Wolff. Das werde natürlich Folgen haben - gerade für das deutsche Wirtschaftsmodell.

Wohlstandsverluste seien in dieser Situation unvermeidlich, heißt es. Das bedeutet: Die Kaufkraft sinkt, das Wachstum bleibt aus, die Gesellschaften werden ärmer. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht: Der Weg weg von der billigen Energie ist in Europa ohnehin beschlossene Sache gewesen.

Jetzt müsse man ihn nur schneller gehen als geplant, meint der SPD-Europaparlamentarier Bernd Lange. "Insofern ist der Ausfall dieser Rohstofflieferungen von Russland natürlich erst einmal eine große Herausforderung, aber mit Blick auf die Umgestaltung der Industriegesellschaft hin zur Klimaneutralität musste das sowieso sein, das wird jetzt natürlich deutlich beschleunigt", sagte er.

"Ein Weckruf"

Und: Das Ende internationaler Wirtschaftsbeziehungen sei das nicht, meint Lange, der Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament ist. Allerdings müsse man sie künftig anders gestalten: "Das ist vielleicht ein Weckruf, in der Tat, Wertschöpfungsketten stärker, stabiler zu gestalten und auch stärker im partnerschaftlichen Miteinander, sodass hier nicht einseitige Ungleichgewichte entstehen."

So sieht es auch der Mannheimer Wirtschaftswissenschaftler Wambach. "Abhängigkeiten, das Lösen von Abhängigkeiten, Rohstoffe, Abhängigkeiten in Rohstoffen, das ist jetzt ganz oben auf der Agenda", sagt er. Es könnte ein schmerzhafter Prozess der Loslösung werden. Aber einer, den man bewältigen könne, meint Wambach. Mit viel Innovationskraft. Denn davon habe Europa immer schon aus eigener Kraft genug gehabt.

Holger Beckmann, Holger Beckmann, ARD Brüssel, 04.04.2022 08:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 04. April 2022 um 11:00 Uhr sowie NDR Info um 06:30 Uhr.