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Analyse

Dilemma der Zentralbank Ukraine-Krieg setzt EZB unter Druck

Stand: 09.03.2022 18:58 Uhr

Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt den EZB-Rat vor eine schwierige Entscheidung: Die hohe Inflation spricht für das Einleiten der Zinswende, akute Konjunktursorgen dagegen. Welchen Weg wählt die Zentralbank?

Eine Analyse von Klaus-Rainer Jackisch, HR

Der "Goldene Saal" ist das Schmuckstück der französischen Nationalbank in Paris. Der mit üppigen Fresken und Gemälden überhäufte Raum beherbergt auch das Deckengemälde des französischen Malers François Perrier, in dessen Zentrum Apollons Streitwagen steht. Die Figur der griechischen Mythologie gilt als Gott des Lichts, der Heilung und der Mäßigung.

Doch als sich der EZB-Rat dort vor rund zwei Wochen zu einem informellen Treffen über die weitere Geldpolitik einfand, war von Licht, Heilung oder gar Mäßigung wenig zu spüren - ganz im Gegenteil. Das Treffen fand ausgerechnet an dem Tag statt, an dem Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine startete. Seitdem steht auch die Welt der Geldpolitik wieder auf dem Kopf.

Inflation ebnet Weg für Zinswende

Eigentlich wollten die 25 Mitglieder des Gremiums, also die Notenbankchefs der 19 Eurostaaten und die sechs ständigen Direktoriumsmitglieder unter Leitung von EZB-Präsidentin Christine Lagarde, in Paris die Weichen für eine Änderung der Geldpolitik und die anstehende Zinswende stellen. Monatelang hatten die Notenbanker gewartet und gezaudert, um auf den dramatischen Anstieg der Preise zu reagieren. Immer wieder hieß es, die hohe Inflationsrate in der Eurozone sei nur von vorübergehender Natur. Sie hatte zuletzt einen Rekordwert von 5,8 Prozent erreicht. Doch die Erwartung eines Rückgangs wollte sich in der Realität nicht einstellen. Denn die Strukturen der wirtschaftlichen Globalisierung haben sich im Zuge der Pandemie verändert, was die Preise immer weiter explodieren ließ.

Die Notenbankchefs insbesondere aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden forderten deshalb schon lange die Straffung der Geldpolitik. Nun gesellten sich auch die Präsidenten der baltischen Staaten dazu, in deren Ländern die Inflationsrate teilweise zweistellig ist. Vieles deutete daraufhin, dass EZB in Paris übereinkommen werde, ihr Anleihekaufprogramm im September auslaufen zu lassen und dann möglicherweise noch im Dezember mit der Zinswende zu beginnen. Der Anfang einer Normalisierung der Geldpolitik nach rund zehn Jahren Ausnahmezustand schien in greifbarer Nähe. Beobachter hatten erwartetet, dass dies auf der EZB-Ratssitzung diese Woche verkündet würde.

Ukraine-Krieg verändert die Lage

Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine ist nichts mehr sicher. Selten zuvor waren sich Beobachter derart uneinig, was die Währungshüter diese Woche beschließen werden. Denn der Krieg setzt die EZB noch mehr unter Druck als ohnehin schon. Analysten sprechen von einer "Zerreißprobe" für den EZB-Rat oder einer "Schicksalssitzung".

Tatsächlich sind die vom Westen eingeleiteten Wirtschaftssanktionen gegen Russland, obwohl teilweise löchrig, auch ein schwerer Schlag für die Konjunkturerholung in der Eurozone. Das gilt insbesondere für Deutschland. Die Entwicklung der Energiepreise und der Energielieferungen aus Russland als Folge westlicher Sanktionen sowie der von der Regierung in Moskau angedrohte Versorgungsstopp ließen die Preise für Rohöl und Gas weiter dramatisch steigen.

Die hierzulande wichtige Rohöl-Marke Brent verteuerte sich zeitweise binnen weniger Tage um rund ein Drittel, die Gaspreise befinden sich auf Rekord-Niveau. Der Liter Benzin oder Diesel kostet mittlerweile deutlich über zwei Euro je Liter, Tendenz steigend.

Gas-Einfuhren für Deutschland kaum ersetzbar

Vor allem Deutschland wird von dieser Entwicklung besonders getroffen, denn 55 Prozent aller Gaslieferungen kommen aus Russland, rund 30 Prozent der Öl-Einfuhren. Die Gas-Einfuhren nach Deutschland können nur sehr schwer durch andere Lieferanten ersetzt werden. Die Hauptmitbewerber Norwegen und die Niederlande arbeiten bereits am Rande ihrer Kapazitäten.

An den Finanzmärkten herrscht deshalb Angst, teilweise gibt es panikartige Entwicklungen. Für Unternehmen, die wegen Corona ohnehin schon massive Kostensteigerungen verkraften müssen, steigen bei der Herstellung ihrer Waren die Kosten nun noch weiter an. Die Folge sind deutlich anziehende Preise in allen Produktgruppen.

Für die Bevölkerung besonders spürbar wird das derzeit neben der Energieversorgung vor allem bei Nahrungsmitteln. Von Gemüse über Molkereiartikel bis zum Zucker steigen die Preise. Durch den Krieg fallen die Ukraine und Russland auch als wichtige Lieferanten von Getreide aus. Deshalb schießen die Preise im Supermarkt auch in diesem Sektor besonders in die Höhe.

Eine Stagflation droht

Volkswirte erwarten Stagflation - ein volkswirtschaftlicher Begriff aus Stagnation und Inflation. Sie rechnen aufgrund der Entwicklung mit einer zurückgehenden Wirtschaft (Stagnation), auch angefacht durch die zunehmende Zurückhaltung der Verbraucher, wie jüngste Daten zum Verbrauchervertrauen zeigen. Dies alles bei gleichzeitig weiter deutlich steigenden Preisen (Inflation).

Das Phänomen der Stagflation kennt man hierzulande vor allem aus den 1970er-Jahren, als eine sehr schwache Konjunktur bei sehr hohen Inflationsraten auf eine durch das Öl-Kartell OPEC ausgelöste schwere Energiekrise traf. Die negativen Folgen waren überall deutlich spürbar.

Zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunktursorgen

Die Währungshüter befinden sich also in einem dramatischen Dilemma. Sie müssen auf der einen Seite die Inflation in Schach halten. Dies ist ihr institutioneller Auftrag. Preisstabilität wird bei einer Inflationsrate von zwei Prozent erreicht. Davon ist die EZB seit Monaten meilenweit entfernt, denn die derzeitige ist fast dreimal so hoch. Neue Inflationsprognosen der Notenbank, die auf der Ratssitzung vorgelegt werden, dürften voraussichtlich deutlich höher ausfallen als die ohnehin schon erwarteten 3,2 Prozent in diesem Jahr. Geht man nur von der Inflationsentwicklung aus, wäre rasches Handeln zwingend notwendig, ja geradezu überfällig. Deshalb fordern viele Unternehmensverbände und Banken trotz der angespannten Situation, die Geldpolitik zu straffen und die Zinswende einzuleiten.

Auf der anderen Seite hat die EZB kein Interesse daran, dass die sehr mühselige und auch teuer erkaufte Erholung der Wirtschaft nach Finanzkrise und Coronavirus-Pandemie nun erneut zum Erliegen kommt. Würde die Zentralbank ihr Anleihekauf-Programm stoppen und die Zinsen anheben, würden die insgesamt ungünstigen Finanzierungsbedingungen die Unternehmen ausgerechnet in einer Situation treffen, in der die Folgen von Corona und Krieg ihre Existenz ohnehin schon massiv unter Druck setzt, wenn nicht bedroht.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde spricht bei einer Pressekonferenz

EZB-Präsidentin Lagarde steckt in einem Dilemma und wird eine schwierige Entscheidung erklären müssen.

Auch für viele Staaten insbesondere in Südeuropa würde ein Zinsanstieg große Probleme mit sich bringen: Ihre Finanzierung würde sich deutlich verteuern, weil etwa für Staatsanleihen mehr Zinsen bezahlt werden müssten. In Ländern wie Italien und Griechenland, wo eine extrem hohe Verschuldung mit einer sich jetzt abschwächenden Konjunktur zusammenkommt, könnte dies zu ernsthaften Problemen führen. Sie könnten im schlimmsten Fall an die Eurokrise von 2011/2012 heranreichen. Der griechische Zentralbankpräsident Yannis Stournaras hat sich deshalb bereits dafür ausgesprochen, die EZB solle erst einmal gar nichts unternehmen und abwarten. EZB-Chefvolkswirt Philip R. Lane, der auf der informellen Sitzung in Paris auch Szenarien über die wirtschaftlichen Folgen eines Ukraine-Krieges vorgelegt hatte, drückte sich ebenfalls sehr vorsichtig aus. Er warnte, trotz der steigenden Preise nicht überhastet zu reagieren.  

Die Optionen der EZB

In dieser insgesamt verfahrenen Situation gibt es für die EZB nun im Kern nur zwei Möglichkeiten zu handeln: Erstens, sie treibt die Normalisierung der Geldpolitik abgeschwächt voran, lässt die Anleihekäufe im Herbst auslaufen, schiebt aber die Zinswende noch hinaus - dies alles versehen mit allen möglichen Hintertüren und Optionen, die Maßnahmen bei Notwendigkeit jederzeit wieder zurückdrehen oder stoppen zu können.

Zweitens, sie geht auf Nummer Sicher und macht erst einmal gar nichts, wartet ab und lässt sich alle Optionen offen. Egal wofür sich die Währungshüter entscheiden: Für die EZB-Präsidentin dürfte es ein ungemütlicher Drahtseilakt werden, dies auf der Pressekonferenz nach der Sitzung angemessen zu verkaufen.

Angesichts dieser auch ökonomisch und geldpolitisch dramatischen Gesamtentwicklung durch den Ukraine-Krieg, dürften sich viele Währungshüter in den "Goldenen Saal" der französischen Nationalbank zurücksehnen - in der Hoffnung, der griechische Gott Apollon werde doch noch seine Kraft entfalten und Licht, Heilung und Mäßigung bringen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus.