SWR-Umfrage zum Dieselskandal Die meisten Kläger würden wieder vor Gericht gehen
Klagen in Zusammenhang mit dem Dieselskandal bringen Gerichte weiter an Belastungsgrenzen. Eine SWR-Umfrage zeigt, dass sich das auch in Zukunft wiederholen kann.
Mit Volkswagen verbindet Ludwig Briehl viel. In den 1960er-Jahren macht er eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker bei einem großen VW-Händler. Jahrelang fährt er VW Käfer. Später kauft er beim VW-Tochterunternehmen einen Audi. Doch dann fliegt im Herbst 2015 der Abgasskandal auf. Briehl stellt fest, dass auch sein Fahrzeug betroffen ist - und verklagt Volkswagen. Und das würde er wieder tun: "Definitiv. Auch wenn ich weiß, es dauert drei Jahre. Das wäre mir egal."
Wie Briehl würden 86 Prozent der befragten Diesel-Kläger wieder vor Gericht ziehen. Das hat eine nicht-repräsentative Umfrage des SWR unter Tausenden Klägerinnen und Klägern ergeben. 93 Prozent gaben sogar an, keinen anderen Weg als die zivilrechtliche Schadensersatzklage zu sehen, um ihr Ziel zu erreichen.
Die Umfrage wurde mit Hilfe mehrerer Anwaltskanzleien und einem Rechtsdienstleister durchgeführt, die jedoch keinen Einfluss auf Fragestellungen und Auswertung hatten.
Motivation der Diesel-Kläger
Was motivierte Betroffene zur Klage? Für die meisten (68,9 Prozent) neben dem Wertverlust ihres Autos auch das nicht eingehaltene Umweltversprechen der Hersteller (65 Prozent). Die illegale Abschalteinrichtung reduziert die Abgasreinigung, sodass mehr Schadstoffe ausgestoßen werden.
Gründe wie eine Geldentschädigung (49,8 Prozent), Ärger (49 Prozent), Protest gegen den Konzern (43 Prozent) und Enttäuschung über die Marke (33 Prozent) werden seltener genannt.
Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten
Im Mai 2020 gab es ein Grundsatz-Urteil des Bundesgerichtshofs zum ursprünglichen VW-Abgasskandal. Erledigt haben sich Diesel-Klagen damit für die Justiz nicht. 36 Prozent der Befragten gaben an, ihre Klagen gegen unterschiedliche Hersteller nach 2019 eingereicht zu haben - also nach dem Ablauf der Verjährung (Ende 2018) im ursprünglichen VW-Skandal. Es geht dabei um andere Abschalteinrichtungen - etwa um sogenannte Thermofenster, bei denen die Abgasreinigung bei bestimmten Außen-Temperaturen reduziert wird.
Doch die Erfolgsaussichten für Klagen, die nicht im Zusammenhang mit dem ursprünglichen VW-Abgasskandal stehen, waren zunächst schlecht. Mittlerweile haben sie sich durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zwar verbessert; die Kläger sind dennoch etwas skeptischer geworden, was die Erfolgsaussichten ihrer Klagen betrifft: 23 Prozent der befragten Kläger nach 2019 schätzen sie als schlecht ein (vor 2019 waren es nur acht Prozent). 55 Prozent haben trotzdem geklagt, weil sie eine Rechtsschutzversicherung haben. 50 Prozent auf anwaltlichen Rat hin.
Vorwurf der "Klageindustrie"
Insbesondere im Zusammenhang mit dieser zweiten Klagewelle wurde Anwälten vorgeworfen, Menschen zu einer Klage überredet zu haben, um daran Geld zu verdienen. Die meisten Befragten gaben allerdings an, von Anfang an von einer Klage überzeugt gewesen zu sein (83 Prozent). Die meisten haben sich außerdem vor dem Einreichen der Klage vor allem durch eigenes Nachlesen (85 Prozent) mit dem Thema beschäftigt. Das Gespräch mit dem Anwalt gewinnt dabei allerdings bei Klägern ab 2019 an Bedeutung: 44 Prozent gegenüber 25 Prozent.
Insgesamt nannten Diesel-Kläger auf die Frage, wie sie auf die Klage gekommen sind, "Werbung von Kanzlei" erst an dritter Stelle (19,5 Prozent) nach "eigene Recherche" (54,1 Prozent) und "Medien" (51,4 Prozent).
"Die Klagenden sind davon überzeugt, dass sie die Initiatoren ihrer Diesel-Klage sind und nicht die Anwälte", sagt Florian Stahl, Professor für Marketing an der Universität Mannheim. Er hat die SWR-Umfrage wissenschaftlich begleitet.
Partielle Überlastung der Justiz durch Massenverfahren
Die Diesel-Klagen brachten und bringen die Gerichte nach wie vor an Belastungsgrenzen - eine Situation, die beim nächsten Skandal wieder eintreten kann.
Eine Entlastung für die Justiz sollte die Musterfeststellungsklage bringen, die kurz vor der Verjährung der Ansprüche im ursprünglichen VW-Abgasskandal vom Gesetzgeber eingeführt worden war. Viele gleichgelagerte Einzelklagen sollten damit vermieden werden. Im VW-Abgasskandal konnten so allerdings nur rund 245.000 Fälle abgeschlossen werden - bei 2,4 Millionen vom Kraftfahrtbundesamt zurückgerufenen Fahrzeugen.
Die Entscheidung für eine Einzelklage anstelle der Musterfeststellungsklage war für viele Betroffene auch deshalb einfach, weil sie eine Rechtsschutzversicherung hatten: 98 Prozent der VW-Einzelkläger vor 2019 haben eine Rechtsschutzversicherung. Für 52,8 Prozent von ihnen war die Versicherung auch der Grund, warum sie sich nicht der Musterfeststellungsklage angeschlossen haben. 20,5 Prozent gaben an, ihr Anwalt habe ihnen dazu geraten.
Einige der Befragten ergänzten, sich zunächst der Musterfeststellungsklage angeschlossen zu haben, später aber auf eine Einzelklage umgeschwenkt zu sein, weil sie mit dem Vergleichsangebot im Rahmen der Musterklage nicht zufrieden waren. Entweder wollten sie mehr Schadensersatz oder tatsächlich eine Rückabwicklung des Kaufvertrags, also das Auto zurückgeben gegen Erstattung des Kaufpreises. Letzteres war bei dem Mustervergleich nicht möglich.
Besonderheit im VW-Abgasskandal
Dabei ist allerdings eine Besonderheit zu beachten: Im VW-Abgasskandal wurde die Musterfeststellungsklage erst sehr spät, Ende 2018 - kurz vor der Verjährung - eingereicht, weil es dafür zunächst die Gesetzesänderung brauchte.
Einzige Möglichkeit für Betroffene, vorher ohne Rechtsschutzversicherung ohne Kostenrisiko zu klagen, war eine "Sammelklage", wie sie etwa der Rechtsdienstleister MyRight anbot. Bei diesem Modell treten Betroffene mögliche Ansprüche an ein Inkassounternehmen ab, das diese dann vor Gericht gesammelt einklagt. Im Erfolgsfall erhält der Rechtsdienstleister einen bestimmten Prozentsatz vom eingeklagten Schadensersatz. Bei einer Niederlage vor Gericht fallen keine Kosten für die Betroffenen an. Aus Sicht der Gerichte sind solche "Sammelklagen" allerdings zahlreiche Individualverfahren, die sie einzeln abarbeiten müssen. Die Bündelung zur "Sammelklage" macht für die Arbeitsbelastung der Gerichte also keinen Unterschied.
Entlastung bei Massenverfahren
Auch im Rahmen der zweiten Klagewelle gibt es eine Musterfeststellungsklage: dieses Mal gegen Mercedes. Sie ist auf bestimmte Abschalteinrichtungen beschränkt, wegen der es Rückrufe für knapp 50.000 Fahrzeuge gab. Der Klage angeschlossen haben sich allerdings nur rund 3000 Menschen.
Kann ein Instrument des kollektiven Rechtsschutzes - wie die Musterfeststellungsklage - also überhaupt zu einer Entlastung der Justiz von Massenverfahren führen? Und wenn ja, wie?
"Das Problem besteht darin, dass man sich weiterhin aktiv anmelden muss, um sich zu beteiligen", sagt Rechtsprofessor Michael Heese von der Universität Regensburg. Er hat die gerichtliche Aufarbeitung des Dieselskandals über die Jahre wissenschaftlich begleitet.
Verbaucherverbände müssen Musterklagen erheben
In den USA gebe es dagegen das "opt-out"-Modell, bei dem Betroffene, die nicht mitmachen wollen, aktiv herausoptieren müssen. Das sei das bessere Modell, weil auf es auf diesem Wege nur dann zu Einzelklagen mit Mehraufwand für die Justiz komme, wenn der Betroffene herausoptiere und einen Anwalt mit einem Einzelverfahren beauftrage.
Ein weiteres Problem sei, dass in Deutschland Musterklagen von Verbraucherverbänden erhoben werden müssen. "Auch das funktioniert nicht gut", sagt Heese. "Im Dieselskandal gab es gerade einmal zwei Musterklagen, obwohl es ohne weiteres mindestens 20 hätten sein müssen." Es sollte auch hier, wie in den USA, über Gruppenklagen laufen.
"Betroffene sollten eine Sammelklage selbst erheben können. Man muss nicht auf Verbände warten, die mit der Aufgabe auch angesichts begrenzter Ressourcen allein nicht gewachsen sind", so Heese. "Wenn man wissen will, wie es funktioniert, muss man nur in die USA schauen. Das ist das Mutterland des kollektiven Rechtsschutzes und dort sind die grundlegenden Weichen richtig gestellt worden."