Eine Maschine des Typs Boeing 737 MAX
analyse

Ursachenforschung nach Pannenserie Was läuft schief bei Boeing?

Stand: 24.01.2024 10:44 Uhr

Der jüngste Unfall einer 737 Max und seine Folgen sind für Boeing ein Desaster. Hat der Hersteller Profit über Sicherheit gestellt? Experten sehen tiefere Gründe für die Krise des US-Konzerns.

Belegschaftsversammlung bei Boeing vor ein paar Wochen in Renton, im Bundesstaat Washington: Firmen-Chef Dave Calhoun ringt um Fassung, als er beschreibt, was ihm durch den Kopf ging, als er die ersten Bilder der 737 mit dem großen Loch in der Kabinenwand sah: "Ich konnte nur daran denken, was mit dem ist, der auf dem Platz direkt daneben sitzen sollte. Ich wusste ja nicht was passiert war."

Tatsächlich saß niemand direkt an dem betroffenen Fensterplatz. Die 177 Passagiere und sechs Crewmitglieder kamen mit ein paar Blessuren und einem gewaltigen Schrecken davon. Für den Flugzeughersteller Boeing aber ist der Unfall ein Desaster - und ein Rückschlag beim Versuch, das ohnehin reichlich lädierte Image des einstigen Weltmarktführers zu reparieren.

Seitdem müssen 171 Flugzeuge der Baureihe 737 Max 9 am Boden bleiben. Und damit nicht genug: Die US-Luftfahrtbehörde FAA empfahl mehreren Fluglinien jetzt auch, sich ihre gut 400 Boeings vom Vorläufer-Modell 737-900 genauer anzuschauen - weil die mit den gleichen "Door Plugs" unterwegs sind, also Wandteilen, die dort verbaut sind, wo eigentlich eine Tür ist.

Auf der Suche nach Türbolzen

Aber wie genau es zu dem Unfall bei Alaska Airline 1281 kommen konnte, ist nach wie vor unklar. Offenbar war der "Door Plug" nicht richtig festgeschraubt, so der bisherige Stand der Ermittlungen. Vier entscheidende Bolzen, die das Teil in der Kabinenwand verankern, seien noch nicht gefunden worden, erklärte Clint Crookshank, einer der zuständige Ingenieur der amerikanischen Transportsicherheitsbehörde NTSB, schon kurz nach der Beinahe-Katastrophe. Ob sie überhaupt je vorhanden waren, dass müsse erst noch geklärt werden.

Passagierjets, Rüstung und Weltraumgeschäft
Der Luft- und Raumfahrtkonzern Boeing gehört zusammen mit Airbus zu den größten Flugzeugherstellern weltweit. Das 1916 gegründete US-Unternehmen mit Sitz in Arlington, US-Bundesstaat Virginia, hatte zuletzt rund 156.000 Beschäftigte und erreichte 2022 einen Jahresumsatz von mehr als 66 Milliarden Dollar.

Der Konzern lieferte im Jahr 2023 insgesamt 528 Flugzeuge aus, während es beim europäischen Konkurrenten Airbus 735 Maschinen waren. Schätzungsweise 40 Prozent des Umsatzes kommen bei Boeing aus dem Verkauf ziviler Flugzeuge, ein Drittel aus dem Rüstungs- und Weltraumgeschäft. Den restlichen Umsatz erwirtschaftet das Unternehmen zum größten Teil mit Dienstleistungen.

Was auch immer die Ursache war: Luftfahrt-Experte Ed Pierson hat der Unfall nicht überrascht - er hätte viel Schlimmeres erwartet, so der ehemalige Boeing-Manager bei CNN. Als "Whistleblower" hat Pierson schon vor dem US-Kongress ausgesagt. Sein Vorwurf: Sein ehemaliger Arbeitgeber stelle Profit über Sicherheit. Die Monteure am Fließband würden gehetzt, um möglichst schnell möglichst viele Flieger fertig zu bekommen. Qualitäts-Kontrollen seien in den vergangenen Jahren zurückgefahren worden.

Und Pierson fühlt sich erinnert an die Abstürze von zwei Maschinen des Typs Boeing 737 Max in den Jahren 2018 und 2019, mit insgesamt 346 Toten: "All die Variablen, die schon vor 2018 und 2019 vor diesen Abstürzen da waren, sind immer noch da. Und sie zeigen wieder ihre hässliche Fratze."

Qualitätsprobleme bei der Produktion?

Auch für den Luftfahrt-Experten Daniel Kwasi Adjekum von der University of North Dakota ist der Unfall Beispiel für ein grundlegendes Problem bei Boeing: "Die Bolzen sind nur ein Symptom für Produktions-, Ingenieurs- und Qualitätskontrollen-Probleme."

Die momentan laufenden Untersuchungen von FAA und NSTB konzentrieren sich deshalb darauf, was wo genau schief lief, warum es niemandem auffiel - und wie viele Flugzeugtypen betroffen sind.

Hergestellt werden die "Door Plugs" von Spirit Aeoro Systems, einem Subunternehmer in Kansas. Zusammengebaut wurde die 737 Max 9 dann im Werk in Renton. Aber die letztliche Verantwortung für die Sicherheit trage Boeing, sagt Adjekum.

Doch offenbar habe das Unternehmen aus der letzten Krise nichts gelernt. Ursache für die Abstürze der beiden 737-Max-Maschinen in Indonesien und Äthiopien waren Software-Probleme, die Boeing zu vertuschen versuchte. Die Katastrophe kostete das Unternehmen über 20 Milliarden Dollar.

Viel Produktion ausgelagert

"Ein Unternehmen, dass gerade so eine Krise erlebt hat, von dem würde man erwarten, dass es von vorne anfängt, wenn es um Führung, Qualitätssicherung und Sicherheit geht", sagt Adjekum. "Aber wenn ein paar Jahre später schon wieder so etwas passiert, dann verstärkt das schon den Eindruck, dass es Boeing mehr um finanzielle Ziele geht, als um Sicherheit."

Ein Stück weit, glaubt Adjekum, rächt sich für Boeing jetzt auch eine Strategie, die schon vor Jahrzehnten aus Kostengründen eingeführt wurde: Design und Produktion von vielen Einzelteilen an Subunternehmer auszulagern. Finanziell mache das vielleicht Sinn. Aber dadurch sei die Qualitätskontrolle noch schwieriger.

Airlines denken über Alternativen nach

Für den Experten trägt aber auch die US-Luftfahrbehörde Mitverantwortung: weil sie einen Teil der Sicherheitsüberprüfungen Boeing selbst übertragen hat. Das Unternehmen zertifiziert also teilweise die Sicherheit der eigenen Flugzeuge. Adjekums Hoffnung ist, dass Boeing und die Behörde jetzt aus dem Debakel lernen - und die 737 Max am Ende ein sichereres Flugzeug ist.

Manche bisherige Großkunden werden das vielleicht nicht mehr abwarten: Der Chef von United Airlines, Scott Kirby, erklärte, er sei enttäuscht von Boeing und den anhaltenden Problemen. Weil United seine 79 Maschinen vom Typ 737 Max 9 derzeit nicht fliegen darf, rechnet das Unternehmen mit Verlusten im kommenden Quartal. Deshalb werde man bei geplanten Neuanschaffungen über Alternativen zu Boeing nachdenken.

Julia Kastein, ARD Washington, tagesschau, 24.01.2024 09:25 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 24. Januar 2024 um 10:21 Uhr.