Zukunft der Deutschen Bahn "Baustellen, Baustellen, Baustellen"
Ab nächstem Sommer will die Bahn ihr Schienennetz erneuern. Bis 2030 soll alles fertig sein und die Fahrgastzahlen doppelt so hoch liegen wie vor Corona. Ein Plan, bei dem sehr vieles klappen muss, damit er gelingt.
Es ist eine durchwachsene Halbjahresbilanz, die Bahnchef Richard Lutz vorträgt: Das Unternehmen ist in die roten Zahlen gefahren. Im Vorjahreszeitraum stand noch ein Gewinn. Die Pünktlichkeit ist im Vergleich zum bereits katastrophalen ersten Halbjahr 2022 noch einmal schlechter geworden. Nur bei den Fahrgastzahlen gab es Zuwächse - auch dank Deutschlandticket.
Und beim Blick in die Zukunft bleibt Lutz vorsichtig. Denn vor der Bahn liegen schwierige Jahre. Das Streckennetz ist stark sanierungsbedürftig und in weiten Teilen veraltet. Die Bahn plant ein umfassendes Sanierungsprogramm - bis zum Jahr 2030. "Die Gründe für die Unpünktlichkeiten liegen zu etwa 80 Prozent an der Infrastruktur. Es hilft nichts anderes, als das Gesamtsystem auf eine andere Qualität zu heben" sagt Lutz. Und räumt ein: "Die Bautätigkeit schränkt die Kapazitäten weiter ein."
Verspätungen als Normalzustand
Sprich: Gestrichene Verbindungen, Verspätungen und überfüllte Züge dürften auf vielen Strecken über Jahre zur Normalität gehören. Keine guten Aussichten für die Bahn, die gleichzeitig den politischen Auftrag hat, mehr Menschen weg von Auto und Flugzeug und hinein in die Züge zu bringen.
"Baustellen, Baustellen, Baustellen. Das heißt für viele erst mal: längere Fahrzeiten und Verspätungen", so fasst Dirk Flege, Geschäftsführer beim Lobbyverband Allianz pro Schiene, die Aussichten für Fahrgäste bis 2030 zusammen. In den kommenden Jahren müssten Passagiere ausbaden, was seit Jahren schief gelaufen sei: "Wir sehen heute das Ergebnis der Vergangenheit. Ein Großteil des Chaos kommt durch mangelnde Investitionen in Netz und Infrastruktur zustande."
Radikales Bauprogramm
Da sind sich Flege und Lutz weitgehend einig. Das Großbauprogramm der Bahn ist geradezu radikal: die am stärksten befahrenen Strecken sollen generalsaniert werden - und dafür monatelang komplett gesperrt bleiben. Dann, 2030, soll die Bahn deutlich leistungsfähiger dastehen. Soweit der Plan.
Doch Flege und andere Bahnexperten haben Zweifel, ob das gelingen kann. "Das Großbaustellen-Programm ist derartig anspruchsvoll, dass wirklich die Frage ist, ob das zu schaffen ist. Auf einen Schlag werden Milliarden in das System gepumpt. Allein im kommenden Jahr drei Milliarden mehr als in diesem. Das muss man erstmal verbauen können. Das Programm ist beispiellos", so Flege.
Der Startschuss für die Generalsanierung fällt im Sommer 2024 auf der Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim: Die Strecke wird voll gesperrt und großteils erst einmal komplett abgerissen - um sie danach binnen Monaten nach neuestem Stand der Technik wieder aufzubauen. Das Projekt gilt als Blaupause für alle folgenden Sanierungen der anderen Hochleistungskorridore.
Engpass Bauwirtschaft
Christian Böttger, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, verfolgt das Projekt gespannt. Der ausgewiesene Eisenbahnexperte kennt die Fallstricke, die ein so ambitioniertes Vorhaben bereit hält. Seine größte Sorge: in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren so wenig in das Schienennetz investiert, dass es kaum noch Baufirmen gibt, die diese speziellen Leistungen anbieten. "Die gesamte Bauwirtschaft hat sich natürlich diesem Volumen angepasst. Und jetzt, da man mehr Geld ausgeben will, stellt man fest: Wir haben die Ressourcen gar nicht dafür. Das heißt: Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Ressourcen."
Auch Flege von der Allianz pro Schiene sieht die Frage der Baukapazitäten als entscheidend an: "Es gibt nur einen kleinen Kreis von Spezialfirmen. Deren Kapazitäten werden dadurch bis zum Anschlag gebunden. Wenn die erste Großbaustelle länger dauern sollte, dann würde die zweite Baustelle schon hinter dem Zeitplan starten." Und Böttger sagt: "Das Ganze wird extrem knapp." Falls zudem, wie in diesem Jahr, unvorhergesehene Baumaßnahmen an anderen Strecken nötig werden sollten, könnte es zu weiteren Streckensperrungen kommen - mangels geeigneter Baufirmen.
Kaum Handlungsspielraum
Die Bahn steckt in einer verzwickten Lage. Einerseits muss das Netz saniert werden - da sind sich Bahnverantwortliche und Experten weitgehend einig. Andererseits hat das Unternehmen die Vorgabe vom Bund, schnellstmöglich mehr Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um die Fahrgastzahlen zu steigern. Fast schon die Quadratur des Kreises. Der Handlungsspielraum der Bahnspitze ist so stark eingeschränkt. Konzernchef Lutz pragmatisch: "Die Bautätigkeit ist Teil der Lösung." Und Verspätungen und Zugausfälle gehören zur Lösung eben dazu.