Volkswirt entwirft Szenario für Griechenland "Ein Grexit Light ist vorstellbar"
Griechenland hat mehrere Optionen in der Hand - davon ist Volkswirt Thomas Mayer überzeugt. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, was er unter einem "Grexit Light" versteht und woran die Euro-Zone seiner Meinung nach zerbrechen könnte.
tagesschau.de: Die Euro-Gruppe hat vor allem beschlossen, sich ein weiteres Mal zu vertagen. Wer spielt da auf Zeit?
Thomas Mayer: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hofft darauf, Hilfe zu seinen Bedingungen zu bekommen. Diesem Ziel ist er schon recht nahe gekommen. Vor allem zeichnet sich ab, dass das Lager der Gläubiger sich aufspaltet. Deutschland, Finnland und die Niederlande wollen hart bleiben. Frankreich, Italien und die EU-Kommission setzen alles daran, Griechenland im Euro zu halten.
Der Volkswirt Thomas Mayer leitet das "Flossbach von Storch Research Institute" des gleichnamigen Finanzdienstleisters in Köln. Schwerpunkte seiner Analysen sind Themen wie Staatsverschuldung, Wirtschaftspolitik, Unternehmensqualität und Anlegerverhalten. Auf Einladung des damaligen Finanzministers Varoufakis nahm er kürzlich an einer Beratungsrunde der griechischen Regierung teil. Mayer arbeitete in führenden Positionen verschiedener Banken, so auch als Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Zuletzt erschien sein Buch "Die neue Ordnung des Geldes - Warum wir eine Geldreform brauchen".
tagesschau.de: Aber ist eine weitere Vertagung nicht grob fahrlässig? Die griechische Wirtschaft steht nach Einschätzung des französischen Notenbankchefs Christian Noyer am Rande einer Katastrophe.
Mayer: Es ist im Interesse der Gläubiger, ein solches Szenario zu zeichnen. Den Menschen und der Wirtschaft geht es nicht gut, aber eine Katastrophe oder Chaos kann ich nicht erkennen. Die griechische Regierung hat es immerhin geschafft, unter diesen Umständen innerhalb nur einer Woche ein Referendum zu organisieren und durchzuführen. Das muss man anerkennen.
tagesschau.de: Schafft es Griechenland auch, weitere Geldquellen zu organisieren?
Mayer: Zurzeit ist Griechenland auf die Nothilfekredite der EZB angewiesen. Die EZB könnte die Kredite mit der Begründung aufstocken, die Verhandlungen seien auf einem guten Weg.
Theoretisch vorstellbar ist auch, dass einzelne Länder sich außerhalb des Rettungsschirms ESM zusammenschließen und Griechenland einen Überbrückungskredit geben. Meines Erachtens wäre das aber wieder ein problematischer Verstoß gegen die eigenen Regeln. Übergeordnetes Interesse der Europäer ist es, Griechenland im Euro zu halten. Deswegen wird man auf ein ESM-Programm zuarbeiten.
Tsipras lässt es darauf ankommen, ob das Land im Euro bleiben kann oder nicht. Er will vor allem ein Programm, das ihm zusagt und das einen Schuldenschnitt beinhaltet.
Schuldenschnitt durch die Hintertür?
tagesschau.de: Wie sinnvoll ist ein Schuldenschnitt oder eine Umschuldung?
Mayer: Die Griechen brauchen erst mal dringend Geld, um ihren Verpflichtungen bei IWF und EZB nachzukommen. Wahrscheinlich wird das Geld vom ESM kommen. Während also IWF und EZB bedient werden, geht Griechenland neue Verpflichtungen gegenüber dem Rettungsschirm ein, nach dieser Umschuldung wäre der ESM also der einzige Gläubiger. Damit gewännen die Griechen einige Jahre Zeit, bevor sie mit der Tilgung der Kredite beginnen müssten.
Diese Zeit könnte man für weitere Umschuldungen nützen und so den Beginn der Tilgung immer weiter nach hinten verschieben. Das wäre sozusagen ein Schuldenschnitt durch die Hintertür, dem die Gläubiger nicht mal mehr zustimmen müssen.
tagesschau.de: Womit werden die Griechen in Zukunft bezahlen? Mit dem Euro, der Drachme oder mit einem ganz anderen Zahlungsmittel?
Mayer: Das hängt davon ab, wie gut Tsipras verhandelt und wie sehr er die Front der Gläubiger aufweichen kann. Dann bleibt Griechenland in der Euro-Zone und bezahlt natürlich weiter mit Euro.
Verhandelt Tsipras schlecht, dann steht am Ende wohl der radikale Schnitt, der Austritt Griechenlands und die Einführung einer neuen Währung als alleiniges Zahlungsmittel. Daneben ist aber auch ein "Grexit Light" vorstellbar. Die Griechen könnten den Euro als Fremdwährung behalten. Sie hätten dann losgelöst vom Euro-System ihren eigen kleinen Euro-Kreislauf. Montenegro macht das zum Beispiel, obwohl das Land weder in der Europäischen Union noch in der Europäischen Währungsunion ist.
Voraussetzung ist allerdings, dass die Griechen diszipliniert mit ihrem Geld umgehen. Bargeld ist nach meinen Berechnungen ausreichend vorhanden. Dafür hat die EZB mit ihren Nothilfekrediten ja gesorgt.
Im Zweifel könnte die griechische Regierung die Bank von Griechenland auch anweisen, die Verpflichtungen gegenüber der EZB fallen zu lassen und eben nicht zu bedienen. Die EZB hätte keine Möglichkeit, das Geld einzutreiben. Sollte das "Montenegro-Modell" mit dem Euro als Fremdwährung nicht funktionieren, könnte Griechenland zusätzlich eine nationale Parallelwährung einführen.
tagesschau.de: Was bedeutet das alles für den Euro? Auch andere Staaten wie Frankreich und Italien haben erhebliche Probleme, die im Falle des Falles kaum von den bestehenden Systemen aufgefangen werden können.
Mayer: Wir haben im Verlauf der Euro-Krise einen großen Fehler begangen, als wir die EZB zum Kreditgeber der letzten Instanz gemacht haben. Denn über die Nothilfekredite lassen sich mindestens indirekt Staaten refinanzieren.
Das ist auf Dauer nicht zu halten, weil Staaten in Notlagen immer wieder die EZB als Finanzquelle nutzen, und das führt zu Meinungsverschiedenheiten. Die einen eignen sich Geld an, die anderen fühlen sich benachteiligt. Das ist eine tödliche Gefahr.
Währungsunionen souveräner Staaten können nur dann funktionieren, wenn die Zentralbank völlig unabhängig agiert und weder direkt noch indirekt an Staaten Geld verleiht.
tagesschau.de: Lässt sich dieser Fehler noch korrigieren?
Mayer: Ja. Vor allem brauchen wir ein Insolvenzverfahren und auch ein Sanktionssystem. Wenn ein Staat auf die umgeschuldete Schuld wieder einen Zahlungsausfall meldet, müsste er aus der Währungsunion ausgeschlossen werden können. Allerdings befinden wir uns da zurzeit in juristischem Niemandsland.
Der Europäische Stabilisierungsmechanismus ESM ersetzt seit Juni 2013 die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF als Euro-Rettungsschirm. Der ESM verfügt über eine Kapitalbasis von 700 Milliarden Euro. 80 Milliarden Euro haben die Euro-Staaten als Grundkapital eingezahlt. Die restlichen 620 Milliarden Euro stehen als Garantien oder abrufbares Kapital bereit. Deutschland übernimmt 27,1 Prozent der Summen. Neben den bereits überwiesenen 21,7 Milliarden Euro sind also im Notfall weitere 168,3 Milliarden Euro abzudecken. Als Gegenleistung für ESM-Hilfen müssen sich überschuldete Länder zu Sparprogrammen verpflichten. Über die Vergabe der Mittel entscheidet ein Gouverneursrat, in dem die Regierungen der Euro-Staaten stimmberechtigt sind.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de