Europas Angst vor dem "Grexit" Was, wenn die Griechen nicht zahlen?

Stand: 02.06.2015 11:43 Uhr

Nein - noch ist nicht D-Day. Denn selbst wenn die Griechen die IWF-Rate am Freitag schuldig bleiben, zieht das nicht automatisch den "Grexit" nach sich. Allerdings: Es könnten Tage folgen, wie die Eurozone sie noch nie erlebt hat. Ein paar Szenarien.

Von Heinz-Roger Dohms, tagesschau.de

Warum guckt alle Welt so gebannt auf diesen Freitag?

Weil dann die nächste griechische Tilgungsrate an den Internationalen Währungsfonds (IWF) fällig ist, rund 300 Millionen Euro. In den vergangenen Wochen hatte es immer wieder geheißen, dass der Regierung in Athen das Geld dafür fehlt.

Und, fehlt es?

Zuletzt scheint sich innerhalb der Gläubigergruppe aus EU, EZB und IWF der Eindruck verfestigt zu haben, dass die Griechen liquide genug sind, um die Rate zahlen zu können. So zumindest schildern es Insider. Daneben wäre laut IWF-Statuten übrigens auch ein Zahlungsaufschub denkbar.

Warum dann die Aufregung?

Weil es eine Frage ist, ob die Griechen zahlen können - und eine andere, ob sie überhaupt zahlen wollen. Die Regierung in Athen wird ihre Verpflichtungen nur so lange erfüllen, wie sie sich einen Vorteil davon verspricht. Zur Erinnerung: Bereits im Vorfeld der IWF-Raten am 9. April und am 12. Mai hatten die Griechen angekündigt, nicht zu zahlen, es dann aber doch getan.

Angenommen, die Griechen zahlen ...

... dann wäre für die Verhandlungen mit EU, EZB und IWF zwar weitere Zeit gewonnen - viel Zeit allerdings nicht. Denn am 12. Juni, am 16. Juni und am 19. Juni stehen weitere Zahlungstermine an. Die Rate von diesem Freitag eingerechnet, geht es alles in allem um 1,6 Milliarden Euro. So viel Geld, heißt es von Euro-Seite, haben die Griechen definitiv nicht mehr.

Angenommen, die Griechen zahlen nicht - sind sie dann pleite?

Gemach. Es gibt - auch wenn die aufgeregte Debatte der vergangenen Tage anderes vermuten ließe - keinen diesbezüglichen Automatismus.

Auch nicht vonseiten der Ratingagenturen?

Nein. Es stimmt zwar, dass S&P, Moody's und Fitch normalerweise einen "Default" (also einen "Zahlungsausfall") verkünden, wenn eine Regierung ihre Schulden nicht mehr bedient. Das gilt aber nur, wenn private Gläubiger wie Banken oder Fonds betroffen sind, nicht, wenn es um den IWF geht.

Wie werden die Gläubiger selber reagieren?

Der IWF dürfte erst einmal eine Art Mahnverfahren in Gang setzen - also nichts Dramatisches. Der Rettungsfonds EFSF hätte zwar das Recht, sämtliche Kredite fällig zu stellen, wenn die Griechen die IWF-Rate nicht bezahlen. Dass der Fonds dies ohne Plazet der EU-Regierungen tut, ist aber ausgeschlossen. Bleibt die EZB, also die Europäische Zentralbank. Ihr kommt die Schlüsselrolle zu.

Warum?

Weil am Tropf der EZB die griechischen Banken hängen. Wenn die Notenbank ihre "ELA" genannten Notkredite kappt, dann würde den Athener Großbanken vermutlich das Geld ausgehen - und das hellenische Finanzsystem zusammenbrechen. Der "Grexit", also der Austritt Griechenlands aus der Eurozone, wäre die wahrscheinliche Folge.

Und das darf die EZB so einfach?

Zumindest täte sie sich in der Theorie leicht, einen solchen Schritt zu begründen. Denn als Sicherheiten für die EZB-Kredite haben die Athener Banken griechische Staatsanleihen hinterlegt. Wenn die Regierung ihre Schulden nicht mehr bedient, ließe sich argumentieren, dass diese Sicherheiten faktisch wertlos sind. Die Notenbank bräuchte sie also nicht mehr zu akzeptieren. Aber wie gesagt, das ist zunächst einmal nur Theorie. In der Praxis wird die EZB, solange die Euroländer mit den Griechen verhandeln, die Banken nicht fallen lassen. Denkbar sind höchstens symbolische Strafmaßnahmen - zum Beispiel könnte die Notenbank die Bedingungen für die ELA-Kredite verschärfen.

Also passiert nach diesem Freitag erst mal - nichts?

Schön wäre es. Allerdings kann niemand sagen, wie die griechischen Sparer reagieren. In den ersten vier Monaten dieses Jahres haben die Griechen laut Bundesbank-Vorstand Andreas Dombret knapp 30 Milliarden Euro von ihren Konten abgehoben. Wenn die Möglichkeit einer griechischen Staatspleite an diesem Freitag erstmals ganz konkret wird, dann könnte tatsächlich das Horrorszenario drohen - nämlich ein regelrechter "Bank-Run". Der hätte in letzter Konsequenz wohl ebenfalls den Zusammenbruch des Finanzsystems zur Folge.

Aaaah - der berüchtigte "Graccident" ...

Genau. Das wäre jenes Szenario, bei dem der "Grexit" selbst dann möglich erscheint, wenn alle Beteiligten - also EU, EZB, IWF und Griechenland - ihn eigentlich verhindern wollen.

Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?

Auszuschließen ist es zwar nicht. Es gibt aber Möglichkeiten gegenzusteuern.

Und zwar?

Sollten die Abflüsse bei den Banken anschwellen, könnte die griechische Notenbank über das Wochenende oder in den Tagen danach einen "Bank Holiday" ausrufen - die Banken würde also erst einmal geschlossen werden. In der Zwischenzeit könnte die griechische Regierung sogenannte Kapitalverkehrskontrollen erlassen. Diese würden zum Beispiel vorsehen, dass die Bürger gar kein Geld oder nur noch geringe Summen von ihren Konten abheben dürfen. Zudem würden Geldtransfers ins Ausland streng reglementiert oder sogar völlig untersagt.

Was wäre denn damit gewonnen?

Dass die Banken am Leben bleiben. Mehr nicht. Denn egal, wie man die Dinge dreht und wendet: Letzten Ende müssen die Griechen und die Euroländer zu einer Einigung kommen - und zwar sehr, sehr bald. Nur dann können die ausstehenden Hilfsgelder in Höhe von 7,2 Milliarden Euro (oder zumindest ein Teil davon) freigegeben werden. Und nur so bekommt die griechische Regierung wieder finanziellen Spielraum.

... womit die eigentliche Krise aber auch nicht gelöst wäre ...

Natürlich nicht. Denn dann würde gleich die Debatte über ein weiteres großes Hilfspaket losgehen. Das ist ja genau das Dilemma, in dem sich die Euroländer und damit die Bundesregierung befinden: Einerseits wollen sie nicht den "Grexit" riskieren. Anderseits wissen sie, dass ihnen eine kurzfristige Lösung aller Wahrscheinlichkeit nach die nächste langfristige Hängepartie einbrockt.

"Grexit" und "Graccident"

"Grexit": Der Kunstbegriff wurde aus den englischen Worten für "Griechenland" (Greece) und "Ausstieg" (Exit) gebildet - gemeint ist ein Ausstieg oder Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone. So etwas ist in den EU-Verträgen allerdings gar nicht vorgesehen.
"Grexident" (alternativ auch "Graccident"): Dieser Neologismus steht für einen von der EU unbeabsichtigten, unfallartigen Euro-Austritt der Griechen. Das Kunstwort besteht aus "Greece" und dem englischen Wort für "Unfall" (Accident) - wobei das Wort im Englischen auch für "Zufall" stehen kann. Gemeint ist aus der Brüsseler Perspektive ein eher versehentliches Schlittern in den Euro-Ausstieg, da niemand weiß, wie die Regierung in Athen entscheidet.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 02. Juni 2015 um 12:00 Uhr.