Fünf Jahre EZB-Präsident Draghi Der Ungeliebte
Buhmann der Nation, Totengräber der Banken und Vernichter der deutschen Sparguthaben: Seit seinem Amtsantritt vor genau fünf Jahren steht EZB-Präsident Mario Draghi vor allem in Deutschland im Kreuzfeuer der Kritik. Zu Recht? Eine Bilanz.
Als es im Herbst 2011 darum ging, einen Nachfolger für den scheidenden EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet zu finden, wetterte die "Bild-Zeitung" gegen alle vorgeschlagenen nicht-deutschen Kandidaten: den Spanier Miguel Ordónez, den Iren Patrick Honohan, den "Pleite-Griechen" Georgios Provopoulos - und selbstverständlich auch gegen den damaligen italienischen Notenbankchef Mario Draghi: "Mamma mia, bei den Italienern gehört Inflation zum Leben wie Tomatensoße zur Pasta! Da kann Signore Draghi noch so oft das Gegenteil behaupten", jammerte das Blatt und warf Draghi indirekt vor, als früherer Vizechef von Goldman Sachs in London der griechischen Regierung beim Verschleiern ihrer Staatsschulden geholfen zu haben.
Gestiegener Frust
Die Entscheidung der europäischen Staats- und Regierungschefs konnte das Boulevard-Blatt zwar nicht beeinflussen - seit dem 1. November 2011 leitet Mario Draghi die Europäische Zentralbank - aber die Kritik an dem Italiener reißt seitdem nicht ab. Im Gegenteil. Der Frust, besonders hierzulande, über die Geldpolitik der Notenbank ist zuletzt sogar weiter gestiegen. Im Frühjahr forderte ausgerechnet die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", Draghi zu stoppen. Dabei waren die Redakteure des Blattes stets als Gralshüter der Unabhängigkeit der Notenbank von den Wünschen und Einflüssen der Politiker aufgetreten. Und nun das.
Gegängelt, zerstört und enteignet?
Tatsächlich sind besonders in Deutschland viele Menschen nicht gut zu sprechen auf den Italiener an der Spitze der Notenbank. Wahlweise ist von "Fehlentwicklung", "zerstörerischer Geldpolitik" oder "Enteignung der Sparer" die Rede, Banken und Versicherungen fühlen sich durch Draghis ultralockerere Geldpolitik gegängelt und ihrer Erträge beraubt.
Wie sehr Draghi inzwischen polarisiert, zeigt auch die Tatsache, dass selbst der Chef der Deutschen Bank die Geldpolitik der Zentralbank öffentlich in Frage stellt. Die EZB habe zwar viel dafür getan, Europa zu stabilisieren, schrieb John Cryan Ende August im "Handelsblatt". Allerdings schade die Politik inzwischen mehr, als sie nutze. So sei der Zinsüberschuss, eine wichtige Ertragssäule der Banken, über die gesamte Eurozone hinweg seit 2009 um sieben Prozent geschrumpft. Nicht Geld aufnehmen, sondern Geld vorhalten kostet Zinsen. Sicherheit werde damit bestraft.
Stellte Draghis Politik öffentlich infrage: Deutsche-Bank-Chef John Cryan
Geringe Inflation
Von seinem Kurs lässt sich Draghi deswegen trotzdem nicht abbringen. Im Deutschen Bundestag sagte er Ende September, die Geldpolitik der EZB gewährleiste Preisstabilität und habe der Gefahr einer neuerlichen "Großen Depression" entgegengewirkt. Die von der EZB ergriffenen Maßnahmen trügen dazu bei, dass sich die wirtschaftliche Erholung fortsetze und Arbeitsplätze entstünden. "Sie sorgen also für einen Aufschwung, von dem letztlich auch die Sparer und Rentner in Deutschland und im Euroraum insgesamt profitieren."
Tatsächlich fällt die Bilanz des Italieners in Sachen Erhalt der Kaufkraft - dem wichtigsten Ziel der Zentralbank - richtig gut aus. In den vergangenen drei Jahren lag die Geldentwertung im Durchschnitt bei 0,9 Prozent und damit weit unter der Zielmarke von knapp unter 2,0 Prozent, unterhalb derer nach allgemeinem Verständnis Preisstabilität herrscht. Erst im kommenden Jahr erwarten Ökonomen einen Anstieg der heimischen Inflation auf bis zu 2,0 Prozent.
Überhaupt hat sich die EZB bei der Bekämpfung der Inflation besser geschlagen als die Bundesbank - entgegen den ursprünglichen Befürchtungen. Seit Einführung des Euro im Januar 1999 sind die Verbraucherpreise in Deutschland im Jahresdurchschnitt um 1,4 Prozent gestiegen, in den Jahren 1960 bis 1998, also unter der Geldpolitik der Bundesbank, betrug die durchschnittliche Inflationsrate 3,2 Prozent.
Schmierstoff für die Börsen
Dass Draghi für die Erreichung seiner Ziele eine andere Politik verfolgt als seine Vorgänger, zeigte der ehemalige Exekutivdirektor der Weltbank (1984-1990) und spätere Goldman-Sachs-Investmentbanker (2002-2005) bereits kurz nach seiner Amtseinführung vor fünf Jahren: Er senkte überraschend die Zinsen. Inzwischen liegt der Leitzins bei 0,00 bis 0,25 Prozent, Banken müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der Notenbank parken, und die EZB kauft Monat für Monat für 80 Milliarden Euro Staats- und Unternehmensanleihen - noch bis mindestens März 2017.
Für die Börsen hat sich das viele Notenbank-Geld als hervorragender Schmierstoff entpuppt. So legte der deutsche Leitindex Dax - allerdings nach vorherigem Absturz in der Finanzkrise - seit November 2011 um etwa 80 Prozent zu. Gleichzeitig beflügelt die Nullzinspolitik die Immobilienmärkte, weil Kredite günstig zu haben sind und viele Sparer ihr Geld lieber in "Betongold" anlegen als es zinslos auf der Bank liegen zu lassen.
Kritik an den Regierungen
Was ein privater Haushalt durch niedrige Zinsen auf Bankguthaben einbüße, spare er vielleicht durch geringere Kreditzahlungen für sein Haus, wirbt Draghi für seine Politik. Allerdings wird er nicht müde zu betonen, dass die Notenbank den Regierungen ihre fiskalpolitischen Aufgaben nicht abnehmen kann. Für einen Anstieg langfristiger Zinsen seien neben Investitionen auch Strukturreformen nötig - zur Steigerung von Wachstum und Produktivität. "Es ist an den Regierungen, investitionsfreundliche Steuer- und regulatorische Politiken in Kraft zu setzen, sowie die Stagnation im öffentlichen Kapitalstock umzukehren", forderte der Italiener. "Es gibt eine Menge, was man dafür tun kann", sagte Draghi kürzlich auf einer Veranstaltung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Trotz der harten Kritik aus Deutschland spart Draghi auch nicht mit Ratschlägen an die deutsche Politik. So legte er im September Deutschland einen Abbau seiner rekordhohen Exportüberschüsse nahe. Staaten mit hoher Wettbewerbsfähigkeit sollten daheim die Nachfrage stärken. "Mit anderen Worten: Länder, die finanziellen Spielraum haben, sollten ihn nutzen", so Draghi. "Und Deutschland hat haushaltspolitischen Spielraum."
Keine guten Freunde
Freunde wird sich Draghi mit solchen Forderungen in Berlin nicht machen. Eines allerdings halten Kritiker Draghi zugute: Den Währungsraum im Sommer 2012 vor dem Zusammenbruch bewahrt zu haben. "Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten", sagte er damals. Tatsächlich wagte es niemand, gegen die Notenbank zu spekulieren. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Von Amtsmüdigkeit ist bei dem heute 69-jährigen Mario Draghi nichts zu spüren. Seine Amtszeit endet in drei Jahren, im Herbst 2019. Dass die Zinsen bis dahin nennenswert angehoben sein werden, halten die meisten Ökonomen für unwahrscheinlich. Gut möglich also, dass die meisten Deutschen Draghi weiterhin kritisch gegenüber stehen.