Euroschau Lagarde rechnet mit dem Schlimmsten
Die Konjunktur bricht dramatisch ein, das Corona-Anleihenprogramm ist bald erschöpft und das Bundesverfassungsgericht grätscht dazwischen: Für EZB-Chefin Lagarde sind das aber nicht die einzigen Sorgen.
Von Klaus-Rainer Jackisch, HR
Corona macht jeden Plan zunichte. Das gilt auch für die EZB. Hätte sich die Pandemie nicht über die Welt gelegt, dann wären die Währungshüter der 19 Euroländer jetzt im schönen Amsterdam - denn da sollte eigentlich die diesjährige Auslandssitzung des EZB-Rates stattfinden.
Die dortige Notenbank, De Nederlandsche Bank, hatte auch schon alles vorbereitet. Denn die nationalen Notenbanken geben sich immer viel Mühe, Gastgeber zu sein. Doch statt Grachten, Windmühlen, Vanille-Vla und Käse von Frau Antje gibt es auch dieses Mal nur eine Videokonferenz - und auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde geht hinterher nur per Internet vor die Presse.
Den Notenbank-Gouverneuren und Direktoriumsmitgliedern ist derzeit aber auch kaum zum Reisen zumute. Nicht nur wegen des Coronavirus, sondern auch weil die wirtschaftliche Lage in der Eurozone immer brenzliger wird. Drei Szenarien haben die Experten der EZB durchgespielt, wie sich die Konjunktur im Euroland in diesem Jahr entwickelt.
Deutlicher Einbruch der Wirtschaftskraft
Je nach Schwere des Wirtschaftsschocks werde das Bruttoinlandsprodukt demnach zwischen fünf und zwölf Prozent einbrechen. Lange hatte man gehofft, Europa werde mit einem blauen Auge davonkommen. Doch spätestens seit einer Veranstaltung in Frankfurt am Main, auf der Lagarde die Lage schonungslos beschrieb, herrscht Katerstimmung. Die Präsidentin rechnet mittlerweile mit dem schlimmsten Szenario - einem Minus zwischen acht und zwölf Prozent. Eine Chance, die Eurozone werde noch einmal glimpflich davonkommen, sieht sie nicht mehr.
Sorgen macht auch die Entwicklung der Inflationsrate - also das Maß, an dem die Währungshüter ihre Geldpolitik ausrichten. Im Mai lagen die Verbraucherpreise nach vorläufigen Berechnungen der europäischen Statistikbehörde Eurostat nur 0,1 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Das ist die niedrigste Inflationsrate seit Juni 2016.
Furcht vor der Deflation
Eigentlich peilen die Währungshüter einen Wert von knapp zwei Prozent an. Nun gibt es erneut Befürchtungen, die Eurozone könne in die Deflation abrutschen - also in eine Spirale ständig fallender Preise. Das fänden vielleicht viele Verbraucher gut, doch für die Wirtschaft wäre das eine Katastrophe. Denn unter solchen Bedingungen kommen die Unternehmen noch mehr in Schwierigkeiten, was zu Kürzungen der Produktion und zu Stellenstreichungen führen würde.
Der EZB-Rat dürfte daher sein im Zuge der Pandemie geschnürtes Rettungspaket noch einmal kräftig aufstocken. An den Finanzmärkten wird erwartet, das in diesem Rahmen aufgelegte Anleihe-Kaufprogramm werde mindestens um 250 Milliarden Euro erhöht, möglicherweise sogar um bis zu 500 Milliarden. Manche hoffen sogar auf eine Verdoppelung. Derzeit umfasst es bereits 750 Milliarden Euro.
Anleiheprogramm im Herbst womöglich ausgeschöpft
Die EZB kauft im Moment sehr schnell und in hohem Ausmaß Anleihen. Wenn das so weitergeht, ist das bislang festgelegte Volumen im September erschöpft. Damit es überhaupt möglich ist, senkten die Währungshüter ihre Kriterien zum Kauf dieser Papiere. Denn der Anleihemarkt ist schon ziemlich leer gekauft. Mittlerweile wird fast alles genommen - auch Ramsch-Anleihen von Unternehmen, deren Bonität also mehr als angeschlagen ist.
Nichts mehr in Stein gemeißelt
Für Unruhe sorgt auch die offene Frage, ob die Bundesbank als Teil des Eurosystems da noch lange mitspielen kann. Denn seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum alten Anleihekaufprogramm PSPP ist nichts mehr in Stein gemeißelt. Die Richter kamen zu dem Schluss, diese Anleihekäufe seien teilweise nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die EZB habe die Verhältnismäßigkeit und die Folgen ihrer Politik nicht ausreichend berücksichtigt. Bundesregierung oder Bundestag müssten daher eine befriedigende Begründung der EZB innerhalb von drei Monaten einholen, die diese Zweifel ausräume. Andernfalls dürfe sich die Bundesbank nicht länger an dem Kaufprogramm beteiligen. Das würde dann natürlich auch für andere Programme gelten. Die Bundesbank ist mit etwas mehr als 26 Prozent größtes Mitglied im Eurosystem.
Kritik am Bundesverfassungsgericht
Das Urteil löste eine Welle von Reaktionen aus. Führende Wirtschaftswissenschaftler kritisierten es scharf und legten nicht unerhebliche Mängel der Richter in der ökonomischen Begründung dar. Die EZB kann und will wiederum die Anleihekäufe nicht aussetzen und würde diese Geldpolitik im schlimmsten Fall auch ohne die Bundesbank fortführen.
Doch dieses Szenario will man auf jeden Fall verhindern: Es wäre ein schwerer Schlag für die Eurozone und könnte der Anfang vom Ende der Währungsunion sein. Deshalb wird erwartet, eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Dabei geht es aber nicht nur um die Sache selbst, sondern auch um ein sehr hohes Gut: die Unabhängigkeit der Notenbank. Sie war bislang auch auf deutscher Seite sakrosankt, wird durch das Urteil jetzt aber infrage gestellt. Dass ein Mitgliedsstaat eine Rechtfertigung durch die EZB zu ihrer Geldpolitik verlangt, die über das vertraglich festgelegte Mandat der Preisstabilität hinausgeht, hat es in dieser Form noch nie gegeben.
Währungshüter wollen Gesicht wahren
Es ist in der Tat ein direkter Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB. Aus diesem Grund müssen die Währungshüter einen Weg finden, ihr Gesicht zu wahren. Denn nichts wäre schlimmer für die EZB, als wenn ihre Unabhängigkeit einen Knacks bekäme. Eine direkte Antwort der EZB auf die Bedenken aus Karlsruhe an deutsche Staatsorgane schließt das von vornherein aus. Möglicherweise muss man den indirekten Weg über das Europäische Parlament gehen.
Für die EZB könnte es also kaum schlimmer sein: Corona setzt die Wirtschaft unter Druck, das geldpolitische Pulver ist weitgehend verschossen, die Spekulanten sind schon in Lauerstellung und nun schießt auch noch das höchste Gericht eines zentralen Mitgliedsstaates quer.
Da bleibt nur die Hoffnung, dass man wenigstens Corona in den Griff bekommt, auch bei De Nederlandsche Bank. Das Treffen in Amsterdam ist nämlich nicht aufgehoben - sondern nur aufgeschoben. Wenn's klappt, wird es im nächsten Jahr nachgeholt.