Stockender Netzausbau Sollte Strom in Windkraft-Regionen billiger sein?
Deutschland hinkt beim Ausbau seines Stromnetzes hinterher. Voraussichtlich nur ein Drittel der geplanten Leitungen wird bis 2030 in Betrieb gehen. Experten dringen auf eine Reform des Strommarkts.
Andreas Eggensberger ließ vor rund zehn Jahren eine riesige Solaranlage auf das Dach seines Hotels installieren. Ein Drittel seines Stromverbrauchs erzeugt er damit durchschnittlich im Jahr selbst. Zu einem weiteren Drittel bezieht er Strom aus Wasserkraft, das verbleibende Drittel muss er vom örtlichen Energieversorger zukaufen.
Trotz dieses einen Drittels merke er die Preissteigerung deutlich: "Wir haben jetzt 66 Prozent Strompreissteigerung gehabt", rechnet der Hotelier vor. Das seien 68.000 Euro, die er mehr bezahlt habe. "Das ist schon ziemlich verrückt." Der Hotelier fürchtet, dass in Zukunft die Strompreise weiter steigen. Darum will er noch mehr Solarstrom selbst erzeugen. Sein Problem: Er hat keinen Platz mehr auf seinen Dächern.
Geschäft unter Brüdern?
Den hätte allerdings sein Bruder Josef auf seinen Scheunen: Die stehen nur wenige Autominuten vom Hotel entfernt. Den Großteil des Stroms, den Landwirt Eggensberger nicht selbst nutzt, speist er ins heimische Netz ein. Dafür erhält er bald nur noch sechs Cent pro Kilowattstunde (kWh). Dann rechne sich die Anlage nicht mehr, sagt er. Dann werde es "vielleicht schon unwirtschaftlich, wenn zum Beispiel der Wechselrichter kaputt ist" und eine Reparatur anstehe.
Solaranlagen, die in der Spitze 30 kW erzeugen, könnte er noch auf sein Dach installieren: genau die Menge, die seinem Bruder Andreas für sein Hotel fehlen. Die naheliegende Idee: Der Landwirt Eggensberger verkauft dem Hotelier Eggensberger seinen überschüssigen Strom. Je nach Verhandlungen mit seinen Bruder könne er von ihm mehr für seinen Strom bezahlt bekommen als die garantierten Strompreise vom Staat. Und für den Hotelier würde der Strom weniger kosten als beim örtlichen Energieversorger.
Begrenzte Leitungen, begrenzter Strom
Doch momentan bremsten die politischen Rahmenbedingungen, sagt Andreas Eggensberger frustriert. Es gebe derzeit keine gesetzliche Regelung, die einen direkte Stromhandel zwischen ihm und seinem Bruder erlaube. Ein Nebeneffekt von "Energy Sharing": Durch den direkten Verbrauch vor Ort würde das Stromnetz entlastet. Denn das kommt schon heute an seine Grenzen.
In der größten Hauptschaltleitung Europas spüren das die Ingenieure von Netzbetreiber Amprion beinahe jeden Tag. Einer von ihnen ist Matthias Livrozet. Begrenzte Leitungen heiße begrenzte Energiemengen, die man transportieren kann, erklärt er. So entstünden Situationen, in denen sogenannte Redispatch-Maßnahmen erforderlich seien. Das bedeutet, dass einerseits Erzeugungsanlagen abgeschaltet werden; andererseits werden gleichzeitig dort, wo Strom fehlt, Anlagen hochgefahren, "die dann die Energie erzeugen, so dass bilanziell der Betrag gleich bleibt", so Livrozet.
"Werden in Solarstrom ertrinken"
Allein im ersten Halbjahr 2022 sind auf diese Weise rund fünf Prozent des erneuerbar erzeugten Stroms abgeriegelt worden. Das entspricht dem Stromverbrauch aller Haushalte in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. In der gleichen Zeit verdreifachten sich dadurch die Redispatch-Maßnahmen: Die Kosten stiegen von 500 Millionen auf eineinhalb Milliarden Euro - eine Summe, die auf alle Stromkunden umgelegt wird.
Experten wie Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, fürchten, dass das Stromnetz bereits in drei oder vier Jahren Probleme bekommen und an seine Grenzen stoßen wird. Denn bis 2030 soll der Anteil der Erneuerbaren verdoppelt werden. "Das heißt, wir werden künftig mittags, wenn die Sonne scheint, in Solarstrom ertrinken", prognostiziert Quaschning.
Einheitliche Preiszonen machen Strom überall gleich teuer
Derzeit ist der Strommarkt als sogenanntes Einheitspreiszonen-System aufgestellt. Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass auch der erzeugte erneuerbare Strom bundesweit beliebig verteilt werden kann. Weil das aber nicht so ist, machte die EU-Regulierungsbehörde ACER im vergangenen Jahr einen Vorschlag: Deutschland solle statt eines einheitlichen Strommarkts in verschiedene Zonen aufgeteilt werden. Dadurch könne die tatsächlich realisierte Strommenge in der jeweiligen Zone besser genutzt werden. Eine weitere Folge: Dort, wo viel erneuerbarer Strom erzeugt wird, würde er billiger.
Politisch sei das Thema allerdings heikel, sagt Lion Hirth, Professor für Energiepolitik an der Hertie School in Berlin. "Weil natürlich die Strompreise im Schnitt in den Regionen, in denen viel Windenergie und Solarzellen stehen, günstiger würden, und in den Gegenden, wo wenig Erneuerbare ausgebaut wurden, also zum Beispiel in Bayern oder im Südwesten, tendenziell ein bisschen höher werden."
Der Vorstand des Netzbetreibers Amprion, Hans-Jürgen Brick, ist gegen den Vorschlag und hält einen beschleunigten Ausbau der Stromnetze für das wichtigste Mittel, um die Kosten zu senken. Doch trotz aller Bemühungen stockt es in Deutschland. Laut einer Prognose der Bundesnetzagentur werden bis 2030 von den notwendigen 14.000 Kilometern Stromleitungen lediglich 5.000 Kilometer in Betrieb gehen.
Die Politik will nichts ändern
Dass sich in Zukunft der Strompreis nach regionalen Verfügbarkeiten richtet, hält hingegen auch Martin Weibelzahl, Direktor am FIM Forschungsinstitut für Informationsmanagement, für sinnvoll. Mit der Umstellung auf Erneuerbare Energien ergebe ein einheitlicher Strompreis für Gesamtdeutschland keinen Sinn. "Marktpreise müssen nicht nur zeitlich schwanken, sondern auch räumlich differenziert sein", sagt Weibelzahl. "So kann die Industrie auch zu wettbewerbsfähigeren Preisen produzieren und sich auf diese Art und Weise dann auch insgesamt transformieren."
Doch bislang will die Politik das Fundament des Strommarkts nicht ändern. Das könne für alle Stromkunden seinen Preis haben, sagt Experte Hirth. Denn es werde im Endeffekt dazu führen, "dass das Stromsystem für uns alle teurer wird. Wir werden mehr Erneuerbare Energien abriegeln, wir werden mehr Geld für Netzausbau zahlen. Wir werden höhere Netzentgelte zahlen." Das funktioniere zwar, so Hirth - aber: "Das wird dann einfach nur teurer."