Deutscher Arbeitsmarkt Wie passen Stellenabbau und Personalnot zusammen?
Führende Unternehmen bauen viele Stellen ab. Tausende Beschäftigte, teils hochqualifiziert, werden nicht mehr gebraucht. Gleichzeitig fehlen fast überall Fachkräfte. Wie ist das zu erklären?
SAP will 8.000 Stellen weltweit streichen. Beim Autozulieferer Bosch sollen in den kommenden beiden Jahren 1.200 Arbeitsplätze wegfallen. ZF Friedrichshafen und der Autokonzern VW wollen mit weniger Mitarbeitern auskommen.
Auch in der Baubranche werden Tausende Mitarbeiter nicht mehr gebraucht. Im Bankensektor wurde bereits der Rotstift gezückt, und der neue Bayer-Chef, Bill Anderson, macht kein Geheimnis daraus, dass der geplante Konzernumbau noch vielen Beschäftigten den Job kosten wird. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Alte Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr
Zur Begründung werden immer wieder ähnliche Argumente gebracht. "Die äußeren Rahmenbedingungen ändern sich", so heißt es. Unternehmen, ja ganze Branchen müssen darauf reagieren, wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollen. Politiker und Investoren drängen darauf, klimafreundlicher zu wirtschaften.
Die zunehmende Digitalisierung tut ein Übriges, denn dadurch verändern sich Art und Weise der Produktion, auch Organisationsabläufe in den Betrieben müssen neu gestaltet werden. Deshalb kommen Geschäftsbereiche auf den Prüfstand, Firmenteile werden verkauft oder an die Börse gebracht. Unternehmen gehen auch Kooperationen mit anderen Betrieben ein, weil es zu lange dauern würde, Neues zu entwickeln.
Veränderung ist der Normalzustand
Das alles hat Auswirkungen auf die vorhandenen Arbeitsplätze und auf das, was von den Beschäftigten in Sachen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwartet wird. "Unsere Arbeitswelt wir schneller und komplexer", sagt Jutta Rump. Sie ist Direktorin beim Institut für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen. "Veränderung ist der Normalzustand. Darauf müssen wir Antworten finden." Das Problem dabei ist, dass es nicht die eine richtige Antwort für die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen gibt.
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung versucht zu beruhigen. "Entlassungen haben über das vergangene Jahr zwar zugenommen, im langjährigen Vergleich liegt die Quote aber immer noch so niedrig wie nie zuvor," sagt der Wirtschaftswissenschaftler. "Wenn jetzt darüber berichtet wird, dann betrifft das meist große, global agierende Konzerne." Über Veränderungsprozesse in kleineren Unternehmen wird seltener geschrieben.
Andere Qualifikationen werden gesucht
Was die derzeitige Situation so besonders macht, ist, dass viele Veränderungsprozesse gleichzeitig ablaufen und sich gegenseitig bedingen. Da werden in einem Unternehmen hoch qualifizierte Fachkräfte nicht mehr gebraucht, die auf den Bau von Verbrennermotoren spezialisiert waren. Das gleiche Unternehmen sucht händeringend Mitarbeiter, die Elektrofahrzeuge bauen können. Gut ausgebildete Fachkräfte sind schon jetzt knapp.
Die Lage wird sich noch verschärfen, wenn in den kommenden Jahren die sogenannten "Babyboomer" in Rente gehen. "Rein rechnerisch werden wir aus demographischen Gründen bis zum Jahr 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte weniger haben, wenn es keinen Ausgleich gibt", sagt Weber.
Was die Situation noch komplizierter macht, ist, dass Anforderungsprofile von Unternehmen an neue Mitarbeiter und die Qualifikation von Jobsuchenden oft nicht zusammenpassen. Selbst diejenigen, die eine qualifizierte Berufsausbildung oder einen Masterabschluss in der Tasche haben, finden nicht problemlos einen Job.
"Zeit ungewöhnlich großer Chancen"
Um Beschäftigten neue Perspektiven aufzuzeigen, haben Konzerne wie Covestro, Henkel, Bosch RWE oder die Deutsche Bank eine "Allianz der Chancen" ins Leben gerufen. Ziel ist es, Mitarbeiter, die in der einen Branche nicht mehr gebraucht werden, durch Umschulungen fit für andere Beschäftigungsfelder zu machen. Kleinere oder mittelständische Unternehmen können von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, etwa von Weiterbildungen profitieren.
"Wir befinden uns in einer Zeit ungewöhnlich großer Chancen", findet IAB-Forscher Weber. Er plädiert dafür, nicht am Althergebrachten festzuhalten, sondern traditionelle Industriezweige in neue, "grüne" Bereiche zu transformieren und in ganz neue Industrien zu investieren. In Sachen erneuerbare Energien, Wasserstofftechnik oder in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden ganz neue Geschäftsfelder entstehen. "Dafür werden Leute gebraucht, die technisch was können." Weber spricht deshalb lieber von "Umbruchzeiten", nicht von "Einbrüchen".