Schriftstellerin Ernaux Schreiben als Erinnerungsarbeit
Als erste französische Autorin hat Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhalten. Ihr unbestechlicher Blick auf schwere Themen wie Abtreibung und Gewalt machte sie auch in Deutschland bekannt, wenn auch erst spät.
Es war ein Moment größter Angst und Verzweiflung: Die junge Annie Duchesne versucht in einem Zimmer ihres Studentenwohnheims, ihr Kind abzutreiben. Zwei Mal lässt sie sich von einer sogenannten Engelmacherin behandeln, auch glühende Stricknadeln kommen zum Einsatz. Beinahe, so lesen wir es in Annie Ernaux‘ Roman "Das Ereignis", wäre sie damals gestorben.
Duchesne ist der Mädchenname von Ernaux - und "Das Ereignis" ist autobiografisch, so wie die meisten ihrer Romane. Es ist eine Erzählung von männlicher Herablassung und sozialer Isolation, zu einer Zeit, den 1960er-Jahren, in der Abtreibungen in Frankreich verboten waren.
Ernaux hat lange gebraucht, um über diesen einschneidenden Moment ihrer Vergangenheit zu schreiben. Zunächst noch distanziert, in ihrem ersten Buch "Les Armoires Vides". Schließlich, in "Das Ereignis", aus der Ich-Perspektive. Schreiben, so sagte sie im vergangenen März in einem Interview, sei "Erinnerungsarbeit": "Sie zwang mich, an manchen Passagen sehr lange zu feilen, um die richtigen Worte zu finden, um das Unerträgliche auszudrücken."
Sexualität, Politik, Weiblichkeit, Gewalt
Geschrieben ist dieses Unerträgliche in einer nüchternen, unemotionalen Sprache, die dennoch nichts ausspart. Diese Art, distanziert auf ihr Leben zu schauen, hat Ernaux schon als Kind gelernt. Sie habe eine Sprache gesucht, um ihr Leben zu verstehen, es lesen zu können, offenbart sie in ihrer Autobiografie "Die Jahre". Ein Leben, in dem über vieles nicht gesprochen wurde: Sexualität, Politik, Weiblichkeit, Gewalt - ihre Romane kreisen um diese Themen.
"An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen", schreibt sie etwa zu Beginn ihres Romans "Die Scham", das vielleicht als ihr Schlüsselwerk bezeichnet werden kann: Ihre Romane sind auch eine Suche nach den Ursachen für Gewalt.
Geschichten von Emanzipation und Selbstbestimmung
Scham - über die Herkunft, das Milieu, das Geschlecht - ist dabei für sie eine der treibenden Kräfte: weil Scham sprachlos machen kann. Auch dagegen schreibt Ernaux an. Ihre Texte werden so zu Geschichten von Emanzipation und Selbstbestimmung, insbesondere mit Blick auf die Rolle von Frauen in der Gesellschaft.
Über die Demütigungen, die mit einer Vergewaltigung einhergehen und über die Mechanismen des Verdrängens. In "Erinnerungen eines Mädchens" schreibt sie über diese Erfahrungen: "Ich wollte dieses Mädchen auch vergessen. Sie wirklich vergessen, das heißt, nicht mehr das Bedürfnis haben, über sie zu schreiben. Nicht mehr denken, ich muss über sie schreiben, über ihr Begehren, ihren Wahn, ihre Idiotie, ihren Hunger und ihr versiegtes Blut. Es ist mir nie gelungen." Und so hat sie über sie geschrieben und damit vielen anderen Frauen eine Stimme verliehen.
In Deutschland erst spät entdeckt
Ihr unbestechlicher Blick hat ihr auch in Deutschland viele Leserinnen und Leser beschert. Hierzulande wurde sie allerdings spät entdeckt. Erst als ihre männlichen Kollegen Didier Eribon und Édouard Louis autofiktional auf ihr eigenes Leben und ihre eigene Herkunft zurückschauten, rückten auch ihre Werke stärker in den Blickpunkt.
Dass sie nun als erste französische Autorin - nach 15 Männern - den Literaturnobelpreis erhält, ist ebenfalls eine wunderbare Geschichte der Emanzipation.